Roger Willemsen über sein neues Buch

Der "Knacks" als Begleiter

Heute am 2. Weihnachtstag häufen sich die schrecklichen Meldungen von Menschen, die über die Weihnachtstage gewalttätig geworden sind, über Wutausbrüche, tödliche Amokläufe und handgreifliche Streitereien. Roger Willemsen würde vielleicht sagen, da ist ein Knacks im Leben dieser Menschen offenbar geworden. Über die vielen Knackse in seinem Leben hat er in seinem neuen Buch philosophiert und domradio-Redakteurin Birgitt Schippers hatte die Gelegenheit, mit Roger Willemsen über die Stolpersteine in seinem Leben zu sprechen. Lesen Sie hier das ganze Interview nach.

 (DR)

Domradio:
Herr Willemsen, wann wurde Ihnen zum ersten Mal klar, da ist ein Knacks in meinem Leben?

Roger Willemsen:
Der erste und am tiefsten greifende Knacks meines Lebens war der Tod meines Vaters. Und zwar gar nicht mal als das Datum, an dem er starb, sondern vielmehr durch die lange Zeit der Krankheit, die ausgerechnet mit meiner Pubertät, meinem Erwachen, meinem Erwachsenwerden zusammenfiel, so dass alles, was ich sah und erlebte und was bei mir mit Steigerung, Expansion, Intensivierung des Lebensgefühle zu tun hatte, immer ausgestellt wurde vor dem Bild des sterbenden Mannes, der allmählich immer weniger wurde und dessen Abschied ich begleitete. Und insofern war auch mein Erwachen immer kontaminiert mit Elementen des Scheidens, Gehens, Sterbens, Vergehens.

Domradio:
Und Sie haben es einen Knacks genannt. Ein Knacks, das ist ein kurzes Geräusch, das auch ganz schnell wieder aufhört. Aber ein schneller Knacks ist es nicht gewesen, was Sie erlebt haben?

Roger Willemsen:
Nein. Den Knacks kann man so wenig aus der Person rausnehmen wie man die Milch aus dem Kaffee nehmen kann. Wir werden alle von unserem Knacks ereilt. Und es sind auch viele. Es sind Bruchlinien, die sich eher in der Fläche ausdehnen als in der Tiefe. Es ist eigentlich wie ein Krakelee, wie eine Netzglasur, die in sich gerissen ist. Und ich glaube alle Phänomene des „Falten-Kriegens", des „von-Dur-zu-Moll-Gehens", des Kapitulierens, des Resignierens, des „nicht-mehr-Könnens", alle diese Phänomene, an denen wir merken wie die Zeit uns angreift und uns prägt und sich uns einprägt, sind letztendlich Knacks-Phänomene.

Domradio:
Sie haben davon gesprochen. Es war der Tod, der langsame Tod Ihres Vaters, der Ihnen einen Knacks ins Leben hineingefaltet hat. Wenn man das Bild der Falte nimmt, das ist wie so eine kleine, fast nicht merkliche Hürde, über die man immer wieder gehen muss. Was war das für eine spürbare Hürde für Sie, Ihr Vater ist tot?

Roger Willemsen:
Wissen Sie, am Anfang ist es nur so was wie Materialermüdung, dass man merkt, etwas glänzt nicht mehr so wie es war oder etwas ist schön. Aber immer mit einem „aber" versehen. Aber mein Vater stirbt. Schließlich ist es dann so, dass es einem etwas Existenzielles mitteilt. Und da in meinem Leben ungewöhnlich viele Menschen für mein Alter bereits gestorben sind - auch solche Begleiter, die mir sehr eng waren und mit denen ich viel verbinde - war ich eigentlich von dieser Form von Vergänglichkeit immer geprägt.

Domradio:
Da war schon in Ihrer Jugend ein Selbstmord eines Freundes, ein ganz schlimmer Unfall eines Klassenkameraden, den Sie auch mit verkraften mussten. Der Tod schon in der Jugend als Begleiter. Wird man da melancholisch fürs Leben?

Roger Willemsen:
Vielleicht nicht unbedingt ausgelöst davon, dass man dem Tod selber zugesehen hat. Aber ich würde schon glauben, dass Melancholie unter Kindern viel verbreiteter ist als man denkt. Und ich habe Recherchen gemacht, bei denen herauskam, dass schon im Jahr 1910 in Selbstmordstatistiken bereits 5-jährige Kinder aufgeführt sind, die sich bewusst aus dem Fenster geworfen haben. Und wenn man sich vorstellt, dass dieses Unglück der Kinder so sein kann, dass sie sich, wie die Österreicher sagen würden, „heimdrehen", sich das Leben nehmen, vielleicht weil sie an das Leben noch nicht so gewöhnt sind, als dass sie es unverzichtbar fänden, dann ist das schon nicht nur eine melancholische Erfahrung sondern es ist eine, die teilt einem etwas mit über das Weltbild des Unglücks. Und es gibt Menschen, die sehen nicht in allem einen Grund weiterzumachen, sondern sie sehen unter Umständen einen Grund sich wegzuwenden.

Domradio:
Sie haben sich nicht weg gewendet. Wenn ich Sie so erlebe mit viel Engagement, mit strahlenden Augen. Wie gehen Sie mit den Knacksen, die jedes Leben mit sich bringt in den verschiedenen Lebensphasen, sei es eine unglückliche Liebe oder berufliche Aufs und Abs, um? Knackse müssen einen nicht zum Stillstand bringen, oder?

Roger Willemsen:
Nein. Sie haben ja auch etwas Stimulierendes. Man könnte ja sagen, sie machen einen zum Teil reifer. Oder souveräner. Vielleicht auch manchmal klüger. Manchmal auch lässt sich über den Knacks Bewusstheit steigern, dass man einfach Erfahrung verdichtet, indem man bestimmte Dinge nicht aus seinem Leben ausgrenzt. Denken Sie mal, wie viele Leute in einer Berufswelt existieren, die von ihnen einen „un-kaputtbaren" Charakter verlangt. Einen, der nicht angefochten wird von Heimweh, von Liebe zur Familie, die einen dazu bringt, dass man abends um sechs das Büro verlassen möchte. Von Unerreichbarkeitswünschen, die einen dazu bringt, dass man das Handy nach acht Uhr abschaltet. Also alles diese Dinge, die das Arbeitsleben heute kaum mehr erlaubt. Als die fühlen sich Menschen aber. Der innere Mensche, der durch diese Bürosituationen geht, der findet sich viel gefährdeter, viel unzuverlässiger, viel schwankender, weniger effektiv als die Berufswelt das von ihm möchte. Mit anderen Worten, er fühlt sich viel mehr vom Knacks erreicht.

Domradio:
Sie schreiben ja auch „im Knacks erlebt der Mensch seinen Kurseinbruch". Immer wieder und immer stärker auch. Sie sagen ja nicht, es ist einmal „ein schöner Knacks" und dann geht man über den zerbrochenen Ast hinweg und läuft weiter im Leben. Trotzdem kann man gut damit leben. Wenn man Ihre Essays aber liest wird man schon melancholisch und ein bisschen traurig. Ist das so Ihre Grundstimmung?

Roger Willemsen:
Also die Grundstimmung da, wo ich ernsthaft nachdenke, die kann nicht anders als melancholisch sein, weil das Denken unablässig auf Trauriges stößt. Es sei denn, es betrügt sich und die Frage ist, ob es dann noch Denken ist. Auf der anderen Seite habe ich ja ein gutes Gegengewicht durch Zweierlei. Das eine ist, dass ich ab und an Programme machen kann, die Menschen amüsieren. Und da es mir immer wieder gelungen ist, sei es mit einem Soloprogramm oder dem Programm, das ich mit Dieter Hildebrand zusammen mache, wirklich das große Gelächter im Saal anzustimmen, ist das ein Gegengift. Das andere ist Enthusiasmus. Denn alles, was man sich mit Leidenschaft aneignet, tut in dem Sinne auf andere Weise weh aber nicht mehr wirklich weh. Und es hat etwas Überbordendes mit der eigenen Leidenschaft arbeiten zu dürfen. Ich glaube, das ist mein Privileg im Augenblick.

Domradio:
Liegt darin nicht die Gefahr, die Bodenhaftung zu verlieren?

Roger Willemsen:
Die Gefahr ist da. Aber gleichzeitig kann ich sagen, ich lebe ja relativ simpel, dadurch dass ich mir weniges erlaube. Viele meiner Auftritte bringen mich sehr unmittelbar und direkt in Verbindung mit Menschen, die lesen. Und die konfrontieren mich mit ihrem Knacks, mit ihrem Leben. Ich kann kein isoliertes Leben in einem „Wolken-Kuckucksheim aus Star-tum" führen. Ich komme in keinen bunten Blättern vor. Ich gehe auf buchstäblich gar keine Feste. Ich enthalte mich aller Gala-Veranstaltungen. Ich mache keine Werbung. Ich trete für keine Produkte auf. Das heißt, es halbwegs gradlinig auf die Momente der Leidenschaft zu beziehen und das heißt auch, auf bestimmte Gedanken zu beziehen, reicht in meinem Leben völlig aus. Wenn ich nebenher noch gut essen darf, bin ich glücklich.

Domradio:
Einsamkeit könnte gefährlich werden, wenn man des Knackses in sich bewusst ist. Etwas was Idealisten, wie Sie es sind, besser vermeiden sollten?

Roger Willemsen:
Die Einsamkeit ist unvermeidlich. Aber sie ist auch der Motor dafür, an Kommunikation so sehr zu hängen, wie ich es tue. Das heißt, ich glaube auch Musik, auch der Kuss, auch die richtige Berührung sind Kommunikation, sind Verständigung, sind der Versuch, herüberzulangen und zu hoffen, dass da jemand ist und antwortet. So ist das mit dem Schreiben auch. Ich bin wahrscheinlich auch redselig aus dem Wunsch heraus ich sei vielleicht nicht alleine. Und insofern bestehen die wesentlichen Elemente des Glücks, das ich persönlich empfinde, immer aus Kommunikation und so bleibt es.

Domradio:
In Ihrer Kindheit haben Sie schon sehr früh bespürt, Ihnen bleibt der Atem stocken. Sie haben Ihr Köfferchen immer unter dem Bett gehabt, um notfalls das Weite suchen zu können. Und Sie haben davon gesprochen, es habe Ihnen in der Zeit eine Art von Kinderfrömmigkeit geholfen. Eine Frömmigkeit, wie Sie auch schreiben, die Sie verloren haben. Kann man fromm sein und trotzdem seinen Knacks leben?

Roger Willemsen:
Gute Frage. Die Kinderfrömmigkeit ist noch etwas ganz inniges, das Kinder unmittelbar an eine Instanz des Großen, Größeren, bei sich seienden Guten anschließt. Ich glaube, die Innigkeit, mit der die Kinder die Hände falten, die ist von wenigen anderen Gesten in den Schatten zu stellen, so stark kann das sein. Auf der anderen Seite ist der Weg der rationalen Entwicklung, die man macht, auch in sich unvorhersehbar und man weiß nicht, bei welchem Glauben oder bei welcher Mischung zwischen Wissen, Nicht-Wissen, Aberglaube und Glauben man ankommt. Aber, dass der Knacks häufig beantwortet wird durch ein Annehmen des Glaubens scheint mir fraglos. Es gibt ganz viele Menschen, die in die Religion gehen, weil sie sich der Anfechtung, die sie durch die Zeit, durch die eigene Vergänglichkeit haben, auf eine bestimmte Weise versuchen zu stellen. Die suchen manchmal aber auch so etwas wie Erlösung, also Aufhebung aus allem. Es gibt andere Menschen, die suchen die Liebe und sagen, die wird alles trösten und alles kitten und alles beschwichtigen. Und schließlich wäre ich derjenige, der sagt, in erster Konsequenz suche ich die Verständigung mit einer Solidargemeinschaft, die das Phänomen des Knacks erkennt. Die sich darüber verständigen wollen. Die in verwandter Notlage sich befinden. Und deshalb ist Kommunikation für mich persönlich das, was ich als erstes ergreife.

Domradio:
Ist so ein Knacks etwas typisch Deutsches?

Roger Willemsen:
Es gibt ein gutes Wort von Goethe über die Deutschen, das lautet: „Die Deutschen werden schwer über allem und alles wird schwer über ihnen". Und ich glaube, das stimmt immer noch. Unter meinen Londoner Freunden hieß es immer, du erkennst die Deutschen bei einer Dinnerparty daran, dass sie im Rudel dastehen und sich über metaphysische Dinge austauschen während wir Engländer Smalltalk beherrschen. Was die Deutschen gar nicht können. Es stimmt, dass der Deutsche sich gerne von sich absetzt. Dass er gerne grüblerisch ist. Dass er ein Metaphysiker ist. Aber kurioserweise die literarische Vorlage - wenn es eine gibt - zu diesem Knacks ist eine Erzählung von Scott Fitzgerald aus dem Jahr 1936 und die heißt „The crack-up". Man würde sie übersetzen mit „Der Knacks" und sie beschreibt die Veränderungen von innen, die ein Leben irgendwann zu bestimmten Formen des Resignierens bringen. Insofern war der amerikanischen Kultur das Phänomen ebenso vertraut wie es unserer, glaube ich, von Alters her gewesen ist.

Domradio:
Dieser Knacks, diese kleine inneren Haarrisse im Leben eines Menschen, gehen einher, so sagen Sie und schreiben Sie, mit dem Bewusstsein zu verlieren, einen Verlust zu erleiden. Vielleicht etwas nicht getan zu haben, was man gerne getan hätte. Gibt es so etwas bei Ihnen?

Roger Willemsen:
Wissen Sie, es gibt Vieles, von dem ich sagen würde, es gehört dem Unwiederbringlichen an. Das Unwiederbringliche hat sich ganz häufig mit dem Toten befasst. Es gibt das mit meinem Vater, es gibt das mit Michel Petrucciani, den viele noch aus der Sendung kennen. Mit Volker Kriegel, mit dem ich sehr befreundet war. Mit bestimmten Figuren, die mich begleitet haben, wie Robert Gernhardt. Und es gibt Situationen, in die wünsche ich mich zurück. Und ich wünsche, dass ich bestimmte Sätze gesagt hätte. Ich wünsche, dass ihnen bestimmte Nachrufe zu Lebzeiten gesagt worden wären. Und wenn ich jetzt mit Dieter Hildebrand unterwegs bin, versuche ich immer ein paar von den Sätzen loszuwerden, von denen ich möchte, dass er sie noch hört während er lebt. Und er soll es möglichst nicht merken, dass ich sie aus dem Fundus dieser Sätze nehme. Eigentlich bin ich überzeugt, dass es meine Aufgabe ist, rauszufinden, was ich auf keinen Fall verpassen möchte und was deshalb noch unbedingt gemacht werden muss. Aber, wenn ich Ihre Frage ganz ernst nehme, dann könnte ich ja sagen, wenn ich heute Kinderfotos von mir sehe und sehe diese überbordende Vitalität und diese Konjunktive, was könnte ich alles, was möchte ich alles, was sollte alles sein, und dann sieht man das, was man geworden ist und man ist nicht unglücklich damit, überhaupt nicht, aber man sieht, dass der Entwurf dieses Lebens so kühn und so unglaublich viel größer war und in so viele Richtungen geht und auch so unerfüllbar war, dass man sagen kann, die Wirklichkeit bleibt dieser Möglichkeit gegenüber immer nur ein Abziehbild.