Helmut Schmidt wird 90 Jahre alt

Lotse in bewegter See

Acht Jahre lang, von 1974 bis 1982, war Helmut Schmidt im Bonner Kanzleramt - seinem Selbstverständnis nach als "leitender Angestellter des Unternehmens Bundesrepublik Deutschland". Und noch mehr als zweieinhalb Jahrzehnte danach erscheint er so manchem im Rückblick als Idealbesetzung für das höchste Regierungsamt

Autor/in:
Helmut Stoltenberg
 (DR)

Die Zeichnung zeigt Helmut Schmidt, auf dem Kopf die für ihn typische Prinz-Heinrich-Mütze, beim Verlassen des Schiffes - eine Abwandlung der berühmten Karikatur zur Entlassung Bismarcks, beschriftet mit dem Satz: "Der Lotse geht von Bord". Mit diesem Titelblatt zum Ende von Schmidts Kanzlerschaft traf der "Spiegel" 1982 die Stimmungslage vieler Deutscher. Wirtschaftskrise, Terrorismus, Hochrüstung - es war keine ruhige See, durch die das Staatsschiff während der Regierungszeit des Hamburgers trieb, doch vermittelte der Steuermann das beruhigende Gefühl, den rechten Kurs zu halten.

Acht Jahre lang, von 1974 bis 1982, war der mediengewandte Hanseat Hausherr im Bonner Kanzleramt - seinem Selbstverständnis nach als "leitender Angestellter des Unternehmens Bundesrepublik Deutschland" - und noch mehr als zweieinhalb Jahrzehnte danach erscheint er so manchem im Rückblick als Idealbesetzung für das höchste Regierungsamt: in weltläufig-staatsmännischer Selbstdarstellung ebenso versiert wie als scharfzüngiger Parteipolitiker gefürchtet, vertrauenerweckend als erprobter Krisenmanager wie als philosophisch reflektierender Pragmatiker, pflichtbewusst bis über die Grenze des gesundheitlich Verträglichen hinaus, nicht ohne Eitelkeit und doch bisweilen sichtbar unter der Last der Verantwortung leidend.

"Schmidt-Schnauze", "Macher", "Weltökonom"
Von "Schmidt-Schnauze" über "der Macher" bis "Weltökonom" reichten die Etiketten für den Mann, der zu den Begründern der Weltwirtschaftsgipfel zählt und mit seinem Freund Giscard d'Estaing den Euro auf den Weg brachte, der den NATO-Doppelbeschluss mitinitiierte und sein Land durch den "deutschen Herbst" 1977 führte, als der RAF-Terror seinen Höhepunkt erreichte. Mit Unnachgiebigkeit reagierte Schmidt auf diese mörderische Herausforderung und war doch zum Rücktritt entschlossen, wäre die Stürmung der entführten Lufthansa-Maschine in Mogadischu gescheitert.

Als der Sohn eines Studienrates mit 55 Jahren zum Kanzler gewählt wurde, gab es keinen anderen deutschen Politiker mit so breiter Regierungserfahrung: Seit 1946 SPD-Mitglied, gehörte er mit einer Unterbrechung ab 1953 dem Bundestag an, war Innensenator seiner Heimatstadt - wo sein Eingreifen bei der Hochwasserkatastrophe 1962 noch heute legendär ist - , später Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion während der Großen Koalition, danach Verteidigungsminister, schließlich Chef des Bundesfinanzministeriums sowie zeitweise als "Superminister" auch des Wirtschaftsressorts - ein Erfahrungsschatz, der ihn beim Rücktritt Willy Brandts geradezu prädestinierte für das Kanzleramt.

Bester "CDU-Kanzler"
Später sollte er es einmal als Fehler bezeichnen, von Brandt nicht auch den SPD-Vorsitz übernommen zu haben. Nicht wenige sahen in dem Hobby-Segler und begabten Pianisten "den besten CDU-Kanzler, den die SPD je gestellt" habe, doch die Entfremdung zu weiten Teilen der eigenen Partei nahm mit seinen Kanzlerjahren immer mehr zu.

Da war das böse, auf Schmidt gemünzte Wort Oskar Lafontaines über die Sekundärtugenden, mit denen man auch ein KZ betreiben könne (Schmidts im September 2008 gezogene Parallele zwischen Lafontaines und Hitlers rhetorischen Talenten war nicht minder unfreundlich); da waren das schwierige Verhältnis zum Partei-Idol Brandt, die harten Konflikte um die Wirtschafts- und Finanzpolitik, der zunehmende Widerstand auch in der SPD gegen Schmidts Nachrüstungspolitik, der immer lautere Protest gegen die wachsende Nutzung der Atomenergie, wegen der manche Grüne noch heute Schmidt im negativen Sinne als einen "Gründungsvater" ihrer Partei sehen.

Zweimal, 1976 und 1980, behauptete sich der im Inland so populäre wie im Ausland geachtete Regierungschef bei Bundestagswahlen zusammen mit der FDP gegen die Unions-Kandidaten Helmut Kohl und Franz Josef Strauß, doch im Februar 1982 konnte er die sozialliberale Koalition im Parlament nur noch per Vertrauensfrage hinter sich zwingen. Wenige Monate später zerbrach das Regierungsbündnis: Als erster Kanzler mit konstruktivem Misstrauensvotum abgewählt, musste Schmidt seinen Stuhl für Kohl räumen.

Seit 1983 Mitherausgeber der "Zeit"
Bis 1987 gehörte er dem Bundestag noch an. Seit 1983 Mitherausgeber der angesehenen "Zeit", gab Schmidt auf der internationalen Bühne nun den "elder statesman" - und kommentierte den Lauf der Welt immer wieder mit der ihm eigenen Arroganz des Überlegenen. Das bekamen die Mächtigen draußen ebenso zu spüren wie die kleinen Leute daheim, etwa wenn er erlauchte Runden amtierender Staats- und Regierungschefs öffentlich als "Dilettanten" abtat oder seinen Landsleuten bescheinigte: "Die Deutschen jammern insgesamt zu viel."

1918 wenige Wochen nach dem Ersten Weltkrieg geboren und im Zweiten als Wehrmachtsoffizier im Fronteinsatz, schien Schmidt sich selbst Jammern stets zu versagen, auch als der passionierte Kettenraucher im Alter mit zunehmender Schwerhörigkeit und anderen Gebrechen zu kämpfen hatte. "Helmut hat ganz viel Gefühl, aber er kann das sehr sorgfältig verstecken", beschrieb seine Frau Loki einmal den Mann, mit dem sie schon die Schulbank gedrückt hatte und seit mehr als 65 Jahren verheiratet ist.

Gefühle verstecken musste der Vater einer Tochter - ein Sohn starb im Februar 1945 im Alter von nicht einmal acht Monaten - wohl schon früh lernen: Die Nazis waren schon an der Macht, als der Jugendliche erfuhr, einen jüdischen Großvater zu haben. "Insofern habe ich dann von 1934 an das Dritte Reich ein bisschen anders erlebt als ein normaler Junge aus Hamburg in derselben Altersgruppe", erinnerte er sich später zurückhaltend. Gelassen klingt er auch, wenn es um das Urteil der Nachwelt über ihn geht: "Falls eines Tages die Historiker zur Meinung kommen sollten: 'Er hat seine Sache anständig gemacht', bin ich ganz zufrieden", sagte Helmut Schmidt einmal. Am Dienstag feiert er seinen 90. Geburtstag.