Es ist ruhig am See Gennesaret. Ein idealer Ort, um für ein paar Tage runterzukommen, sich mit persönlichen Fragen zu beschäftigen, Gott zu suchen und ihm im Gebet zu begegnen. Exerzitien in Israel? Ausgerechnet jetzt? Die Idee dazu kam mir bereits vor einem Jahr, als mir ein Arbeitskollege von seinem Vorhaben berichtet hatte, für ein paar Tage der inneren Einkehr nicht ein Kloster hier in deutschen Landen zu besuchen, sondern ins Heilige Land zu fahren.
Dass der Nahe Osten ein Pulverfass ist und Reisen nach dorthin immer mit einem erhöhten Sicherheitsaufwand verbunden sind, wusste ich bereits. Israel sei das sicherste Land der Welt, sagte vor fast 30 Jahren ein Lehrer meiner Schule, mit dem wir als Gruppe für zwei Wochen dort waren, um uns mit dem Nahostkonflikt, aber auch dem jüdischen Leben auseinanderzusetzen.
Keine Reisewarnung mehr für Israel
Seit Anfang November warnt das Auswärtige Amt nur noch vor Reisen in den Gazastreifen und in das Westjordanland (ohne Ostjerusalem). Von nicht notwendigen Reisen in andere Landesteile Israels sowie nach Ostjerusalem wird jedoch abgeraten. Israel befinde sich weiterhin formell im Kriegszustand und die Sicherheitslage im Land sei unvorhersehbar.
Die Anreise mit dem Flugzeug verläuft unkompliziert. Lediglich die Grenzbeamtin am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv will genauer wissen, was ich als Einzelperson in Israel vorhabe. Die gut 160 Kilometer vom Flughafen nach Tabgha im Norden des Landes verbringe ich im Taxi auf weitestgehend leeren Autostraßen. Der Schabbat hat begonnen.
"Gefährlicher" Ort für persönliche Entscheidungen
"Willkommen im Paradies", begrüßt mich Pater Efrem in Tabgha, wo ich nachts um 2 Uhr Ortszeit ankomme. Der Benediktiner kümmert sich dort um die Gäste und war vor Jahren selbst ein solcher, bevor er sich dazu entschied, hier zu bleiben. Der Ort sei daher "gefährlich", was persönliche Entscheidungen in bestimmten Lebenssituationen anbelangt, meint Efrem mit einem Schmunzeln. Das Priorat Tabgha gehört zur Dormitio-Abtei in Jerusalem.
Meine Unterkunft ist im sogenannten "Pumpenhaus", einem kleinen Gebäude direkt am Seeufer in unmittelbarer Nachbarschaft zum Konvent der philippinischen Schwestern, die zusammen mit den Benediktinermönchen für das geistliche Leben in Tabgha sorgen. An diesem Wochenende erwarten sie Besuch. In Israel leben über 30.000 Philippinerinnen und Philippiner.
Einige davon kommen zum Christkönigssonntag nach Tabgha, um zusammen mit den Schwestern das Patronatsfest des Ordens zu feiern. Selbstverständlich ist das nicht, da der Sonntag in Israel ein ganz normaler Arbeitstag ist.
Biorhythmus stellt sich auf monastisch um
Auswärtige Pilgergruppen kommen nur wenige. Immer wieder halten Busse auf dem Parkplatz und Gruppen aus Asien, Afrika und Lateinamerika steigen aus, um den Pilgerort Tabgha zu besichtigen. Deutsche Gruppen kommen zurzeit so gut wie gar nicht. Pater Efrem bedauert dies. "Das Heilige Land ist nicht nur ein Ort des Konflikts, der Spannung und des Krieges, sondern auch ein heiliger Ort, der wirkt und geistliche Früchte für alle hervorbringt, die mit Glauben hierherkommen", wendet er ein.
Tatsächlich spürt man die Besonderheit, die Ruhe und die Zeitlosigkeit an diesem Ort gerade in diesen Tagen. Zusammen mit mir sind noch drei weitere Gäste aus Deutschland im Kloster. Die Struktur des Tages wird durch das Gebet der Mönche im Oratorium und die Heilige Messe in der Brotvermehrungskirche eingeteilt und hilft auch mir, Zeitmarken anzubringen. Nach einigen Tagen habe ich meinen Biorhythmus bereits umgestellt und werde sogar vor 5 Uhr wach, wenn es am See Gennesaret noch stockfinster ist.
Gespenstische Stille
An einem Nachmittag mache ich einen Spaziergang zum Pilgerhaus, das am Südrand des Grundstücks liegt, welches dem Deutschen Verein vom Heiligen Lande gehört. Hier war ich noch vor zehn Jahren mit einer etwa fünfzigköpfigen Pilgergruppe unserer Pfarreiengemeinschaft für mehrere Nächte untergebracht. Am Eingangstor begrüßt mich ein junger Mann auf Deutsch. Er erzählt, dass er normalerweise als Rezeptionist hier arbeitet, seine Aufgabe sich aber momentan auf das Bewachen des Anwesens beschränke. Zurzeit seien nur zwei Zimmer im Haus belegt und die Cafeteria geschlossen.
Dort, wo noch vor zehn Jahren Pilgergruppen abends draußen auf der Terrasse saßen, herrscht nun gespenstige Stille. Warum denn die deutschen Pilger nach dem Waffenstillstand nicht wieder ins Heilige Land kämen, möchte der Mann von mir wissen. Ich antworte ihm, dass viele noch verunsichert seien und durch die Bilder aus Gaza in den Nachrichten viele denken, das sei überall im Land so. Man brauche etwas Geduld.
Christen entdecken ihr eigenes Land
Es gibt aber eine Kehrseite der Medaille, erfahre ich beim Abendessen mit den Mönchen. Viele Einheimische hätten jetzt selbst die Gelegenheit, ihr Land zu erkunden und die Heiligen Stätten zu besuchen. Manche Christen in Israel seien noch nie in Nazareth, in Tabgha oder auf dem Berg Tabor gewesen. Das Ausbleiben der auswärtigen Pilgergruppen habe nun einige dazu veranlasst, dieses Versäumnis nachzuholen.
Aber auch andere Menschen in Israel haben Nachholbedarf, was die Lebensqualität anbelangt. Auf dem Weg nach Kafarnaum komme ich an einem Parkplatz vorbei. Ein Mann sitzt dort neben seinem Auto, aus dem laut arabische Partymusik ertönt. Auch auf dem See ist an diesem Wochenende viel los. Junge einheimische Männer drehen auf Wassermotorrädern enge Kurven und lassen dabei das Wasser emporspritzen.
Während es in Tabgha am Abend zur Komplet läutet, stehen auf dem äußeren Parkplatz zwei Autos, aus denen ebenfalls laute arabische Musik tönt. Pater Efrem erklärt mir, dass viele Menschen nach nun über zwei Jahren Krieg Sehnsucht nach dem normalen Leben hätten und dies in der Freizeit und beim Feiern suchten.
Andächtige Stimmung an den Heiligen Stätten
In Kafarnaum selbst ist wieder andächtige Stimmung. Es sind Pilgergruppen vor Ort, wenn auch nicht viele. Auf dem Parkplatz steht der Bus einer evangelikalen Gruppe aus Venezuela. Auf dem Rückweg kommen mir viele Menschen aus Afrika entgegen.
Am späteren Nachmittag steige ich auf den Berg der Seligpreisungen. Auf dem riesigen Parkplatz stehen gerade einmal zwei Busse. Ich habe das ganze Areal fast für mich alleine, was auch eine beeindruckende Wirkung hat. Der Blick von dort oben auf den See, während es bereits zu dämmern beginnt, ist einfach atemberaubend.
Nach einer knappen Woche heißt es Abschied nehmen. Ich habe das Leben im "Paradies" sehr genossen, bin sogar einmal im See geschwommen, dessen Wasser durch den zurückliegenden Sommer noch sehr warm ist. Bei Lufttemperaturen bis um die 30 Grad habe ich kaum geahnt, dass es eigentlich schon Ende November ist. Daran erinnerte mich nur die sehr früh und recht schnell untergehende Sonne.
Mit dem Bus nach Jerusalem
Mit dem Bus geht es nun von Tiberias nach Jerusalem. Es ist Freitagvormittag. Viele Juden gehen einkaufen, denn morgen ist wieder Schabbat. In den Bus steigen neben einigen orthodoxen Juden auch junge Frauen in Militäruniform. Fahren sie nach Hause oder zum Dienst? Der Bus ist nach einigen Stationen gut gefüllt. Über die Autobahn geht es in etwas mehr als zwei Stunden in das gut 1.000 Meter höher gelegene Jerusalem.
Es ist nun die Großstadt, die mich mit ihrem regen Treiben in den Straßen empfängt. Viele kaufen noch etwas ein, bevor die meisten Geschäfte zum Schabbat schließen. Andere sitzen in den Cafés und relaxen vor dem freien Tag. Ab der Altstadt, die ich zu Fuß über die Jaffastraße erreiche, erhöht sich die militärische Präsenz merklich. Das ist aber nicht neu. So habe ich es auch bei meinen vorherigen Besuchen erlebt.
Großbaustelle Grabeskirche
Nun ist die Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg für ein paar Tage mein Domizil, von wo aus ich die Heiligen Stätten besuche. Die Grabeskirche ist eine Großbaustelle. Überall auf dem Boden liegen Holzbohlen. Es wird gearbeitet, während der Gottesdienstbetrieb weiterläuft. Ein schönes Bild für unsere Kirche. Besonders genieße ich die frühen Morgenstunden, in denen noch wenige Pilger das Grab Jesu Christi aufsuchen. Im griechisch-orthodoxen Teil sitzt ein Mann, der Kerzen verkauft und dabei Weihnachtslieder singt. Durch die Baustelle läuft immer wieder eine Katze, die sich hier wohl recht heimisch fühlt.
Jerusalem präsentiert sich in diesen Tagen nicht anders, als ich es sonst erlebt habe. Arabische Händler unterhalten sich mit Angehörigen des israelischen Militärs, das die Zugänge zum Tempelberg bewacht. Ein orthodoxer Jude lotst einen palästinensischen Autofahrer mit seinem Van durch das Zionstor, welches für PKW-Fahrer eine besondere Herausforderung darstellt.
Dass jetzt die Adventszeit, die Vorbereitung auf Weihnachten, beginnt, merkt man im christlichen Viertel der Altstadt. Dort sind einige Straßen entsprechend geschmückt. Vor manchen Geschäften stehen Weihnachtsmänner und vom Glockenspiel im YMCA-Tower westlich der Altstadt erklingen in den frühen Abendstunden Advents- und Weihnachtslieder.
Kriegszustand und Waffenstillstand
Dass sich Israel im Kriegszustand befindet, entgeht dem aufmerksamen Beobachter jedoch auch nicht. An einem Haus im jüdischen Viertel hängt eine Fahne mit der Aufschrift "Make Gaza Jewish again". An einem Schaukasten kleben Portraits mit dem Hashtag #FreeThemAll. Ein arabischer Händler im muslimischen Viertel verkauft Spielzeugwaffen. Seit dem Waffenstillstand am 11. Oktober sollen laut Auskunft der staatlichen Nachrichtenagentur der Palästinensischen Autonomiebehörde allein in Gaza über 350 Menschen umgekommen sein. Unabhängig überprüfen lässt sich diese Angabe jedoch nicht.
Und mittendrin in diesem Konflikt sind die Christen, die zwischen den anderen Parteien fast zerrieben werden. "Unsere Aufgabe als Christen ist es, für den Frieden einzutreten", sagt Abt Nikodemus in seiner Predigt in der Heiligen Messe am 1. Adventssonntag in der Dormitio. Das möge angesichts der gegenwärtigen Kriege und militärischen Auseinandersetzungen utopisch erscheinen. Aber ähnlich wie Jesaja eine Vision davon hatte, dass "Schwerter zu Pflugscharen" gemacht werden, so müsse das auch heute für uns gelten, um aus der Spirale der Gewalt zu entkommen.
Die Gemeinde an diesem Sonntag ist klein. Etwa 30 Gläubige sitzen im Chorraum der Dormitio-Abteikirche, deren Gottesdienste sonst gerade von deutschsprachigen Pilgergruppen besucht werden. Doch in diesen Tagen hört man unter den Besuchergruppen wenig Deutsch. Das Theologische Studienjahr in Jerusalem läuft jedoch und die Studierenden nehmen auch an den Gottesdiensten und Gebetszeiten der Mönche teil.
Jerusalemer Alltagsroutine
Am Montagvormittag blicke ich noch einmal von der Dachterrasse auf die Umgebung der Abtei. Routinearbeiten laufen. Die sanitären Anlagen beim Davidsgrab werden mit einem Hochdruckreiniger aufwändig gesäubert. Es riecht nach gechlortem Wasser. Auf den benachbarten griechischen und armenischen Friedhöfen präpariert jemand mit der Flex einige Grabsteine.
Als ich nach dem Mittagsgebet mit dem Koffer zur Straßenbahn laufe, merke ich noch einmal die Jerusalemer Alltagsroutine. Die Straßenbahnen kommen im engen Minutentakt. Vor dem Zugang zum Bahnhof wird mein Koffer durchleuchtet. Der Zug zum Flughafen fährt pünktlich ab. Dort werde ich weitere drei Mal kontrolliert. Der Ben-Gurion-Airport gilt nicht umsonst als der sicherste der Welt.
"Es gibt noch viel zu entdecken"
Zurück in Deutschland denke ich oft an die elf Tage in Israel zurück. Es waren Erfahrungen, die ich sonst nicht gemacht habe. Ein Land im Kriegszustand, das aber doch irgendwie versucht, die Normalität des Alltags nicht zu verlieren. Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, die – wie ich – trotz der Situation dorthin gereist sind, waren allesamt der Meinung, dass sie sicher sind. Ob man nun zu Fuß durch die Jerusalemer Altstadt gehe oder in Deutschland einen Weihnachtsmarkt besuche, hörte ich in den vergangenen Tagen mehrfach als Vergleich.
Waren diese außergewöhnlichen Exerzitien anfangs als einmaliges Unterfangen geplant gewesen, so stieg im Laufe der Zeit immer stärker der Wunsch in mir auf, es so noch einmal zu tun. Die Einladung dazu erhielt ich nach meiner Rückkehr prompt von meinem Gastpater Jonas aus Jerusalem: "Kommen Sie gerne in zwei Jahren wieder. Es gibt noch viel zu entdecken."