Diese Folgen hat der 7. Oktober auf den interreligiösen Dialog

"Der Schlüssel sind die persönlichen Beziehungen"

Der Terror der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat auch Folgen für den interreligiösen Dialog in Deutschland. Vielerorts herrschen Sprachlosigkeit und verhärtete Fronten. Stefan Wimmer und die "Freunde Abrahams" versuchen sie zu überwinden.

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Menschen verschiedener Religionen, einige in weißen Gewändern mit weißen Regenschirmen, bei einem interreligiösen Marsch für Frieden in Jerusalem / © Andrea Krogmann (KNA)
Menschen verschiedener Religionen, einige in weißen Gewändern mit weißen Regenschirmen, bei einem interreligiösen Marsch für Frieden in Jerusalem / © Andrea Krogmann ( KNA )

DOMRADIO.DE: Am 7. Oktober 2023 überfielen Terroristen der Hamas Israel. Seitdem herrscht Krieg im Nahen Osten. Von 48 israelischen Geiseln fehlt bis heute jede Spur. Sie sind gerade aus Israel zurückgekehrt. Wie präsent ist dieses Datum heute noch in der israelischen Gesellschaft?

Prof. Dr. Stefan Wimmer (privat)
Prof. Dr. Stefan Wimmer / ( privat )

Prof. Dr. Stefan Wimmer (Vorsitzender des interreligiösen Vereins "Freunde Abrahams" in München): Dieses Datum ist natürlich enorm präsent. Die allgemeine Lage ist auf allen Seiten verheerend. Es herrscht Perspektivlosigkeit und Unsicherheit. Die Erwartungen sind - jedenfalls langfristig gesehen - sehr pessimistisch.

Auf der anderen Seite habe ich - gerade im jüdisch-israelischen Kontext - erlebt, wie das Leben weitergeht. Wir waren in Jaffa und am Strand in Tel Aviv. Der ist belebt und fröhlich. Die Leute gehen baden und viele scheinen nach zwei Jahren so zu leben, als wenn nichts wäre. Das kann ich einerseits verstehen. Andererseits ist Gaza nur 60 Kilometer entfernt. Trotzdem scheinen viele der Meinung zu sein, dass es sie nichts angehe. Der Krieg wird zwar im Namen Israels geführt und man interessiert sich für die Freilassung der Geiseln, aber ansonsten gibt es eine weit verbreitete Haltung des Wegschauens und des Verdrängens.

Dieses Nicht-wissen-wollen wird auch dadurch erleichtert, dass die jüdisch-israelischen Medien nahezu nicht über das berichten, was Medien auf der ganzen Welt aus Gaza zeigen: den Horror und die Katastrophen. Das führt wiederum dazu, dass viele jüdische Israelis das Gefühl haben, dass die ganze Welt nur über Gaza spricht und dass dies nur durch den weltweiten Antisemitismus zu erklären sei. Das kann man natürlich nicht verallgemeinern - es gibt ein breites Spektrum, aber es hat mich dennoch sehr betroffen gemacht. Denn der Krieg ist schlimm, aber das Schweigen der Mehrheit darüber auch.

Stefan Wimmer

"Der 7. Oktober 2023 war eine völlig neue Dimension. Ich würde von "Terrorinvasionen" sprechen."

DOMRADIO.DE: Dagegen kann man argumentieren, dass die Hamas mit ihrem Terroranschlag den Krieg ausgelöst hat und die Menschen im Gazastreifen als menschliche Schutzschilde benutzt. Das wird aus Sicht von Kritikern bei der Berichterstattung über Gaza immer häufiger unterschlagen. Hat der 7. Oktober - vor dem Hintergrund des Holocaust - eine Dimension, die nicht-Juden und -Jüdinnen nicht ermessen können, weil sie alte Traumata weckt?

Wimmer: Ja, natürlich. Der 7. Oktober 2023 war eine völlig neue Dimension, für die wir noch gar keine Begrifflichkeit haben. Ich würde von "Terrorinvasionen" sprechen. Bei jüdischen Menschen wird da etwas ausgelöst, was nicht-Juden und -Jüdinnen sicher nicht nachvollziehen können.

Auf der anderen Seite ist es auch so, dass der 7. Oktober 2023 nicht am Beginn des Israel-Palästina-Konflikts steht, sondern eine Folge dessen ist, was seit vielen Jahrzehnten in der Region passiert. Der 7. Oktober hat einen Kontext und es ist vollkommen unverantwortlich, wenn man diesen nicht ansprechen kann, im Gegenteil. Man muss ihn ansprechen, um zu verstehen, was passiert ist. Mit "verstehen" meine ist nicht "um Verständnis werben". Denn, diese Terrorinvasion ist durch Nichts zu rechtfertigen. Aber wir müssen verstehen, warum das passieren konnte, was Menschen dazu bringt, dass sie solche Verbrechen begehen. Das hängt mit der Politik Netanjahus zusammen, als ein wichtiger Faktor von mehreren.

Als ich jetzt in Jerusalem war, habe ich aus nächster Nähe mitbekommen, was Palästinensern von israelischen Soldaten oder Grenzpolizisten vermittelt wird. Es ist die Botschaft: "Wir können mit euch machen, was wir wollen!" Diese Botschaft wird Palästinenserinnen und Palästinensern seit Generationen vermittelt. Das hat natürlich Folgen. Das alles muss angesprochen werden. Dieser Konflikt besteht aus zwei Seiten.

Stefan Wimmer

"Ich stehe auf der Seite der Opfer und die gibt es auf beiden Seiten. Ebenso wie es auf beiden Seiten Täter gibt."

Wenn wir irgendwie den Versuch unternehmen wollen, dem Geschehen gerecht zu werden, dann müssen wir beide Seiten wahrnehmen. Wir müssten uns viel mehr dafür interessieren, was die Seite, die uns vielleicht weniger sympathisch ist, denkt, bewegt und motiviert. Auch wenn Dinge dabei sind, die wir eigentlich nicht hören wollen. Aber wir müssen sie uns anhören und verstehen lernen, dass das eine Grundvoraussetzung für jeden ist, der sich irgendwie mit dem Konflikt befassen möchte.

DOMRADIO.DE: Sie haben acht Jahre in Jerusalem studiert. Sie waren mit einer Palästinenserin verheiratet. Sie sprechen Hebräisch und Arabisch. In Deutschland herrscht ein "entweder – oder". Entweder du bist für Israel, oder für Palästina. Wie positionieren Sie sich da?

Wimmer: Ich persönlich habe sehr gute Verbindungen zu beiden Seiten. Ich arbeite eng mit Israelis zusammen. Ich lehne einen Boykott Israels ab und stehe hinter dem jüdischen Staat Israel, aber nicht hinter seiner aktuellen Politik.

Ich stehe auf der Seite derer, die diesen Konflikt friedlich lösen möchten. Dazu gehört auch, dass man diejenigen, die das auf beiden Seiten verhindern, laut und deutlich kritisiert. Ich stehe auf der Seite der Opfer und die gibt es auf beiden Seiten. Ebenso wie es auf beiden Seiten Täter gibt. Diese falsche Frontlinie, die wir immer ziehen - entweder pro Israel oder pro Palästina - macht den Konflikt aus. Das ist seine DNA. In diese Falle dürfen wir nicht tappen. Wir müssten uns mit den Opfern solidarisieren und gegen die Täter. Unabhängig davon, welcher Religion oder Ethnie sie angehören. Es geht nicht darum, ob Opfer oder Täter jüdisch oder palästinensisch sind, sondern darum, wie sie handeln.

DOMRADIO.DE: Längst sind die Folgen des Krieges in Deutschland angekommen. In der Bundesregierung wird über die Haltung zur israelischen Regierung diskutiert. Auf der Straße gärt die antisemitische Stimmung. Sie sind Vorsitzender des Vereins "Freunde Abrahams" in München, der sich für den Interreligiösen Dialog engagiert. Inwiefern beeinflusst der Krieg dieses Miteinander der Religionen in Deutschland?

Stefan Wimmer

"Das gesellschaftliche Klima in Deutschland leidet unter dieser Sprachlosigkeit, unter dieser Verweigerungshaltung."

Wimmer: Es war und ist ein Problem, auch und vielleicht ganz besonders in München. In unserem Verein ist es nach dem 7. Oktober gut gegangen. Aber es gibt in München den Rat der Religionen, ein Gremium, wo sich verschiedene Religionen zusammentun. Ich war Mitglied, aber ich bin ausgetreten, weil ich nicht mehr mitverantworten möchte, wie man dort miteinander umgeht.

Man hätte meinen können, dass es gut ist, dass es bei so einem Ereignis wie dem 7. Oktober ein Gremium gibt, wo man sich in geschütztem Rahmen treffen und austauschen kann. Wo man fragen kann: "Was bedeutet das für euch und was bedeutet das für uns? Was können wir tun? Was sollten wir nicht tun?“ Genau das ist nicht passiert, sondern es ist einer Seite vorgeschrieben worden, was sie zu sagen hat und soweit es nicht erfüllt wurde, hat die andere Seite dann die Gespräche abgebrochen.

Im Wesentlichen wird der interreligiöse Dialog in München von den beiden jüdischen Gemeinden blockiert und verhindert, weil sie mit den muslimischen Dialogpartnern nicht mehr reden möchten. Das ist natürlich katastrophal. Nach dem 7. Oktober hätten wir alle viel mehr miteinander reden müssen. Je länger das dauert, desto schlimmer werden die Verhältnisse. Offensichtlich war der Dialog vor dem 7. Oktober nicht das, wofür man ihn gehalten hat, sondern man hat sich über das ausgetauscht, wo Einigkeit herrschte, aber man hat viel zu wenig voneinander verstanden.

Das gesellschaftliche Klima in Deutschland leidet unter dieser Sprachlosigkeit, unter dieser Verweigerungshaltung. Wir haben eine Verantwortung für das Zusammenleben in Deutschland. Ich sehe, dass daran gezündelt wird. Wenn wir das nicht endlich aufarbeiten, wird uns das um die Ohren fliegen!

DOMRADIO.DE: Die Problematik gibt es in vielen Zusammenschlüssen in Deutschland, die sich für interreligiösen Dialog engagieren. Nicht so in ihrem Verein "Freunde Abrahams". Warum funktioniert das bei Ihnen?

Wimmer: Es funktioniert da, wo es persönliche Beziehungen gibt. Wir haben auf dieser persönlichen Ebene Beziehungen aufgebaut, die so wertvoll sind, dass wir weitermachen können, auch wenn wir uns vielleicht schwertun, zu verstehen und zu akzeptieren, was der andere zu diesem Konflikt sagt. Aber wir wissen, dass unser Gegenüber ein aufrechter Mensch ist und respektieren seine Position.

Wir können und müssen von Deutschland aus nicht den Nahost-Konflikt lösen, sondern wir müssen dafür sorgen, dass wir hier bei uns würdevoll, anständig und konstruktiv miteinander umgehen und zusammenleben. Dafür sind persönliche Beziehungen der ein wichtiger Schlüssel.

Stefan Wimmer

"Es gab schon einmal einen Waffenstillstand, der dann doch wieder gebrochen wurde."

DOMRADIO.DE: Nun liegt zum Erstaunen der Weltgemeinschaft ein Waffenstillstandsplan auf dem Tisch, zu dem US-Präsident Trump beide Seiten gedrängt hat. Ein Plan, der Chancen hat, von der Hamas und Israels Präsident Netanjahu angenommen zu werden. Lässt Sie das hoffen?

Wimmer: Man muss zwischen einer mittel- und einer langfristigen Perspektive unterscheiden. Eine Lösung des Israel-Palästina-Konflikts, wie es uns Trump gerne verkaufen möchte, sehe ich nicht. Aber es gibt die Hoffnung darauf, dass dieser seit zwei Jahren andauernde Krieg endlich endet, so dass nicht jeden Tag mehrere Dutzend Menschen getötet werden, dass auch die letzten Geiseln freigelassen werden, dass es eine Phase des Aufatmens gibt und der Hunger in Gaza beendet wird. Wie es danach weiter geht, steht vollkommen in den Sternen. Dazu ist dieser Plan viel zu unspezifisch.

Aber ich glaube, dass es tatsächlich wichtig wäre. Ich hoffe, dass alle zustimmen und zumindest diese ersten Schritte gehen werden. Ich hoffe, dass es dann genug Druck auf beide Seiten gibt, dass es vielleicht auch positiv weitergehen könnte.

DOMRADIO.DE: Man müsste am Ende Trump und seiner Rumpel-Diplomatie recht geben und sagen, dass es zwar unorthodox war, aber hat funktioniert?!

Wimmer: Es gab schon einmal einen Waffenstillstand, der von Joe Biden vermittelt wurde und dann doch wieder gebrochen wurde. Was funktioniert, ist politischer Druck auf die Akteure. Der kann auf Hamas von arabischen Staaten ausgeübt werden, von amerikanischer Seite auf Israel und zusätzlich auch von europäischer Seite. Ohne solchen Druck kommen die Menschen in Israel und Palästina keinen Schritt weiter.

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Interreligiöser Dialog

Der interreligiöse Dialog ist der katholischen Kirche ein wichtiges Anliegen. Sie versteht darunter alle positiven Beziehungen mit Personen und Gemeinschaften anderen Glaubens, um sich gegenseitig zu verstehen und einander zu bereichern. Im Dialog geben die Gläubigen Zeugnis von der Wahrheit ihres Glaubens im Respekt vor der religiösen Überzeugung des Anderen. So gehören Dialog und Verkündigung zusammen.

Der interreligiöse Dialog wird auf unterschiedlichen Ebenen vollzogen:

Symbolbild: Interreligiöser Dialog / © godongphoto (shutterstock)
Symbolbild: Interreligiöser Dialog / © godongphoto ( shutterstock )
Quelle:
DR

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