DOMRADIO.DE: Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch "Christliche Werte leben – Politik gestalten", wie Sie als Katholik in der DDR aufwuchsen: Als „Außenseiter“ in einem Klima der Kirchenfeindlichkeit, den Zugang zum Gymnasium und an die Universität wollte man Ihnen verwehren, weil Sie sich nicht in das System einordneten. Warum haben Sie trotzdem am Glauben und an der Kirche festgehalten?
Dr. Reiner Haseloff (Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt): Ich bin in einer Großfamilie aufgewachsen, die fest im katholischen Glauben stand. Meine Mutter und ihre gesamte Familie kamen aus Oberschlesien, wie viele andere Menschen, die nach dem Krieg in unsere Region rund um Wittenberg vertrieben wurden und ihr eigenes katholisches und oberschlesisch geprägtes Glaubensleben mitbrachten.
Wir hatten sehr gute Pfarrer, die aus dem bis 1994 existierenden großen Erzbistum Paderborn aus den westlichen Bundesländern stammten. Und Druck von außen erzeugt auch eine intensivere innere Reflexion darüber, warum man anders ist. Als Jugendlicher und Heranwachsender war das eine ganz bewusste Entscheidung, weil wir überzeugt waren, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
DOMRADIO.DE: Ist die Sozialisation als Christ in der Diaspora das, was Ostchristen bis heute von Westchristen im entsprechenden Alter unterscheidet?
Haseloff: Glaubensleben in einem kommunistischen, antikirchlichen Umfeld war für uns nie normal. 1968, als alle die Jugendweihe besuchten, gingen mein evangelischer Schulkamerad und ich als einzige in der Klasse zur Firmung bzw. Konfirmation. Es war eine bewusste Entscheidung und man muss gut argumentieren können, wenn die Marxisten versuchen, einen als Verwirrte und ewig Gestrige darzustellen, weil man angeblich nicht bereit waren, die wissenschaftliche Weltanschauung zu akzeptieren. Darum habe ich mich letztlich auch entschieden, Physik zu studieren: Das war ein relativ ideologiefreier Raum, der mich nicht in Gewissenskonflikte brachte.
In meinem Geburtsjahr 1954 waren noch 90 Prozent der Bevölkerung Kirchenmitglieder, vor allem evangelisch, heute sind es im Osten mancherorts noch fünf Prozent. Das hat zur Folge, dass es hier nicht primär darum geht, wer da am Altar steht oder welche Strukturreformen es braucht, sondern unsere erste und entscheidende Frage ist: Glaubt jemand an Gott oder nicht? Damit will ich nicht sagen, dass Strukturfragen in der Kirche nichts bringen, aber sie helfen nicht bei der Beantwortung der wichtigsten – nämlich der Gottesfrage.
Und wir fühlten uns Rom immer besonders nah, für uns war der Papst die entscheidende Person. Ohne Johannes Paul II. wäre der Eiserne Vorhang möglicherweise nicht gefallen und die Wiedervereinigung Deutschlands nicht gekommen, denn Rom hat diese innere Teilung Deutschlands nie anerkannt, für uns war die Romtreue so etwas, wie eine letzte Schutzmöglichkeit.
DOMRADIO.DE: Ihr Buch heißt: „Christliche Werte leben – Politik gestalten“. Sie schreiben, dass das Christentum für Sie das Fundament ihrer Politik ist und war. Bei den großen Themen wie etwa den Fragen des Lebensschutzes liegt das auf der Hand. Aber wie haben Sie sich im politischen Alltag und den alltäglichen Entscheidungen von ihrem Glauben leiten lassen?
Haseloff: Ich schreibe in meinem Buch über den für mich so wichtigen Philosophen Josef Pieper, der die Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Tapferkeit wieder aufgegriffen und für die Gegenwart erschlossen hat. Diese vier Kardinaltugenden sind aus der griechischen Antike ins Christentum hineingewachsen und sollten eigentlich für jeden in unserem Kulturraum zugänglich und akzeptanzfähig sein, sie sind Ausdruck unserer Traditionen und Werte.
Für mich waren sie in der Politik immer leitend: Tapferkeit ist wichtig, aber sie reicht alleine nicht aus, wenn man etwas bewirken will. „Maß und Mitte“ sind in der Politik immer ein guter Ratgeber und Gerechtigkeit ist für einen Rechtsstaat wichtig, aber wenn jeder nur nach seinen Fähigkeiten und Kräften, quasi nur eins zu eins zugeteilt bekäme, führt zu einer kalten Gesellschaft. Alles muss gesteuert werden durch die Klugheit, im Sinne von Vernunft und Verantwortungsbewusstsein.
Bei den Entscheidungen in der Corona-Zeit beispielsweise habe ich mich davon leiten lassen, dass die Klugheit die anderen Kardinaltugenden steuern muss. Also: Dinge nur machen, die man auch wirklich durchsetzen kann und so, dass sie auch Akzeptanz finden und die Gesellschaft nicht spalten. Darum haben wir zum Beispiel keine Bußgelder gegen diejenigen verhängt, die sich nicht knallhart an die Maskenpflicht gehalten haben, weil es nicht durchsetzungsfähig gewesen wäre. Ich kann nicht hinter jeden Bürger einen Polizisten stellen. Und Dinge, die ich als Staat nicht durchsetzen kann, sind unglaubwürdig. Das hat mir viel Kritik eingebracht, auch überregional, in den Medien und von der Kanzlerin damals. Aber im Nachhinein zeigt sich, dass es auch Grenzen gibt, die man beim besten Willen nicht überschreiten kann.
DOMRADIO.DE: Viele Politiker verzichten mittlerweile bei ihrem Amtseid auf die Formel "So wahr mir Gott helfe" und in vielen Landesverfassungen findet sich kein Gottesbezug. Welche Zukunft haben christliche Haltung und Werte in einer Gesellschaft, in der Glaube und Zugehörigkeit zu Kirchen immer weniger werden und die Säkularisierung voranschreitet?
Haseloff: Das ist ein Dilemma, denn unser Grundgesetz ist christlich intendiert. Auch in unserer Landesverfassung in Sachsen-Anhalt, wo nur 10 bis 15 Prozent der Menschen einer Religion angehören, haben wir eine Präambel, in der steht: "In Verantwortung vor Gott und den Menschen". Das ist auch ein Zeichen für die Menschen, die nicht an einen Gott glauben. Ein Zeichen, dass es in einer Gesellschaft Grenzen gibt, die sich dem Zugriff des Menschen entziehen, wenn sie funktionieren soll; dass es Tabuzonen gibt, die man nicht überschreiten darf, gerade was den Lebensschutz oder die Würde des Menschen angeht.
Die Säkularisierung führt dazu, dass vieles anstößig wirkt: Zum Beispiel der Schutz von Ehe und Familie. Das wurde aus gutem Grund so geschrieben und entspricht auch der katholischen Lehre. Unter heutigen Gesichtspunkten gibt es den Versuch, auch Neuinterpretationen zu Lebensentwürfen zuzulassen, die zwar nicht im Grundgesetz stehen, aber dann über das Bürgerliche Gesetzbuch oder andere Rechtsgrundlagen formuliert werden. Das ist ein Balanceakt, den wir vor dem Hintergrund des Grundgesetzes gehen müssen.
Aber wir werden uns immer wieder fragen müssen, ob die Entscheidungen, die wir treffen – zum Beispiel zum assistierten Suizid, weil das Bundesverfassungsgericht uns aufgefordert hat, ein neues Gesetz zu schreiben – an die Grenzen geraten, was nach unserem Grundgesetz zulässig ist, nämlich der Schutz des Lebens vom Anfang bis zum Ende. Da sehe ich auch die Aufgabe der Kirchen, die handelnden Politiker zu begleiten und pastoral zu unterstützen.
DOMRADIO.DE: Sie fordern in Ihrem Buch, dass sich Kirchen mehr in den gesellschaftlichen Diskurs einmischen sollten: Kirchen als Meinungsführer und Ihre Vertreter und Vertreterinnen häufiger in Talkshows. Das finden nicht alle Politiker gut, erst kürzlich hatte ihre Parteikollegin Julia Klöckner moniert, Kirchen mischten sich zu sehr in die Politik ein.
Haseloff: Ich meine nicht das tagespolitische Geschäft, wie die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn. Das können andere besser und fundierter. Unsere Aufgabe als Christen ist es, davon zu erzählen, dass Jesus Christus, der Erlöser, gekommen ist und wir das ewige Leben bekommen, wenn wir uns seiner Lebensweise annähern. Das ist die Botschaft und die beginnt damit, dass durch die Ebenbildlichkeit Gottes das menschliche Leben von Anfang bis Ende geschützt sein muss.
In einer pluralen Gesellschaft wie der unseren gibt es viele Diskussionen und da brauchen wir die Orientierung, die nicht einfach über Mehrheitsbeschlüsse kassiert werden kann. Bei Gesetzgebungsfragen in säkularen Fragen ist das möglich, aber diese Konstruktion, die vor 2000 Jahren auf den Weg gebracht wurde, ist anders. Und es ist auch mein Appell an die Christen in Deutschland, zu schauen: Woher kommen wir? Und wie repräsentativ sind wir für die Weltkirche? Da müssen wir demütig feststellen, dass wir eine Marginalie sind.
Die Menschheitsfamilie hat die Möglichkeit, über die Weltkirche ein großes globales ethisches Netzwerk zu bilden. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Wir sollten da nicht Einzelwege gehen, denn das birgt die Gefahr der Spaltung und die ist nie gut gewesen in der Kirchen- und Christentumsgeschichte.
DOMRADIO.DE: Sie sind zurzeit dienstältester Ministerpräsident in Deutschland, seit 2011 sind Sie das politische Gesicht des Landes Sachsen-Anhalt und ein Beispiel dafür, wie sehr sich Wählerinnen und Wähler nach Stabilität und Verlässlichkeit sehnen. Und wie sehr Politik vom Vertrauen lebt. Bei der nächsten Landtagswahl in einem Jahr treten Sie nicht mehr an. Neuste Umfragen besagen jetzt, dass die AfD vor der CDU liegt und wenn am nächsten Sonntag in Sachsen-Anhalt Landtagswahl wäre, läge die AfD mit deutlichem Abstand vor der CDU auf Platz eins. Können Sie eigentlich noch ruhig schlafen?
Haseloff: Ich schlafe sowieso wenig, weil ich abends noch viel lese und arbeite. Aber diese Umfrageergebnisse sind die Herausforderung der nächsten Monate: Wir haben mehrere Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Berlin, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern und überall sind die Trends die gleichen und gleich schlecht für die politische Mitte.
Ich will das gar nicht an der CDU alleine festmachen. Der eigentliche Ausfall sind die anderen Parteien: Wenn wir in Sachsen-Anhalt mit um die 27 Prozent gerankt werden und die SPD bei sieben Prozent liegt, muss ich sagen: Die CDU schafft es nicht alleine! Wenn andere Parteien formal da sind, müssen sie auch erkennbar sein und schauen, wo ihre Wähler abgewandert sind. Die Union ist im Moment nicht das Hauptproblem, sondern das Zusammenfallen der anderen Parteien, mit denen wir in den vergangenen Jahrzehnten Koalitionen der Mitte gebildet haben. Mein Appell in Richtung Berlin ist, dass die SPD wieder für ihre Wähler wählbar werden muss. Wir müssen wieder Politik für eine Mehrheit in der Mitte hinbekommen. Demokratie kann man nicht so verstehen, dass man dauerhaft versucht, als eine Minderheit, die man geworden ist, an einer Mehrheit vorbeizukommen.
DOMRADIO.DE: Also ist Ihrer Meinung nach allein die SPD schuld an der dem Umfragehoch der AfD?
Haseloff: Die Prioritäten müssen neu gesetzt werden. Wir haben den komfortabelsten Sozialstaat der Welt, aber derzeit erwirtschaften wir ihn nicht mehr, sondern finanzieren ihn über Schulden. Wir müssen also wieder dahin kommen, dass wir nur das ausgeben, was wir einnehmen. Das ist leichter gesagt, als getan, auch für mich, mit meinem Landeshaushalt.
Und es gibt Ängste: Es gibt wieder Krieg in Europa, die Bündnisse, hinter denen wir uns versteckt haben, werden infrage gestellt. Wir haben uns nie um Aufrüstung gekümmert, weil wir glaubten, die Amerikaner machen das für uns. Wir müssen uns ehrlich machen: Wir haben zu Lasten anderer Nationen und Ressourcen gelebt, auch im Umweltbereich. Und wenn man das auf ein ethisch zulässiges Maß zurückfährt, heißt das eben auch Begrenzung. Und das bekommt man nur hin, wenn sich die demokratische Mitte einig ist und nicht innerhalb einer Koalition Opposition spielt und anderen den schwarzen Peter hinschiebt. Wir müssen erkennen, dass wir derzeit mit unseren Ressourcen nicht gerecht umgehen, sondern unser Wohlstand zu Lasten anderer geht.
Wir als Christen sollten wie der Sauerteig sein, als Minderheit den Rest der Gesellschaft positiv beeinflussen und zu durchdringen. Und wir sollten uns darauf zurückzubesinnen, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes in Gang gebracht haben und was wir voller Freude am Tag der deutschen Einheit feiern: Dass wir seit dem 3. Oktober 1990 diesem christlich intendierten Grundgesetz beitreten konnten. Wir sollten jetzt gemeinsam dafür kämpfen, dass es nicht infrage gestellt wird. Diese Werte dürfen nicht verwässert werden.
DOMRADIO.DE: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie es als Ihre Aufgabe ansehen, die jüdisch-christlichen Fundamente unseres Gemeinwesens und unserer Kultur zu bewahren. Was passiert denn, wenn dieses Fundament irgendwann in unserem Land keine Rolle mehr spielt?
Haseloff: Da ist man am besten beraten, wenn man einen Nicht-Christen, Atheisten und ehemaligen Kommunisten zitiert: Gregor Gysi hat einmal gesagt, er möchte in keiner Gesellschaft leben, in der es keine christlichen Werte und kein Christentum mehr gibt.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.