DOMRADIO.DE: Wie stellen Sie sich Gott vor, und wann wird er für Sie erfahrbar?
Prof. Dr. Christiane Woopen (Philosophin und Direktorin des Center for Life Ethics an der Universität Bonn): Gott ist für mich ganz und gar unvorstellbar, unverfügbar, er übersteigt alles, was wir mit unseren zwar eindrucksvollen, aber doch sehr spezifischen Sinnesorganen und unserem menschlichen Denkvermögen erkennen können.
Stellen Sie sich einmal vor, wir könnten uns Gott tatsächlich vorstellen? Dann würde er sich in unser Schema sinnlicher und gedanklicher Wahrnehmung einfügen und damit auch unseren Grenzen unterliegen.
Wenn wir Gott tatsächlich verstehen könnten, würde er nicht mehr für das Absolute und Unbedingte stehen – das wäre für mich ein Widerspruch. Doch auch wenn wir Gott nicht verstehen können, darf der Glaube der menschlichen Vernunft nicht widersprechen. Glaube und Vernunft sind für mich keine Gegensätze.
Wichtig ist mir auch, dass Gott mir als der Unvorstellbare trotzdem nah ist. Zwar kann ich ihn nicht vollständig erfassen, aber ich kann mit ihm je nach meiner aktuellen Situation und dem, was mich auf dieser Welt gerade berührt, ganz unterschiedliche Vorstellungen verbinden.
Er kann der Arm sein, der mich trägt, die Wärme, die meinen Körper durchflutet, der Sauerstoff, den alles Leben auf der Welt atmet, das Licht, dass mir Orientierung schenkt, die Hand über mir, die mich segnet, die Träne des Berührtseins in den Augen eines Freundes, der Wind über majestätischen Berggipfeln und der in alten Lumpen an einer Hausecke schlafende Obdachlose.
Mich begleitet ein Satz, der mich vor vielen Jahren einmal sehr berührt hat: Gott findet man, wenn man tief in sich hinein geht und durch sich hindurch über sich hinaus.
DOMRADIO.DE: Gab es schon Situationen, in denen Sie mit Gott gehadert oder Ihren Glauben infrage gestellt haben? Und wenn ja, was hat Ihnen da geholfen?
Woopen: Wie könnte ich mit jemandem hadern, der sich meinem Verständnis so ganz und gar entzieht? Vor allem aber: Wie könnte ich mit jemandem hadern, der mir und allen Menschen umfassende Freiheit und unbedingte Liebe geschenkt hat?
Ich weiß natürlich um die bitteren Fragen gläubiger Menschen, die an persönlichen Schicksalsschlägen verzweifeln oder fassungslos auf die Grausamkeiten schauen, die Menschen einander antun können. Ich teile ihre Verzweiflung und Fassungslosigkeit, aber ich frage nicht danach, warum Gott so etwas zulässt.
Mein Glaube beinhaltet, dass Gott uns nach seinem Ebenbild und damit auch als ganz und gar freie Wesen geschaffen hat. Es liegt an uns und nicht an Gott, ob wir uns für das Gute oder das Böse entscheiden. Auch alle Unzulänglichkeiten und Schicksalsmomente gehören zur menschlichen Verfasstheit und Begrenztheit.
Sollte ich etwa von Gott erwarten, dass er alles Schlimme von mir und allen anderen Lebewesen fernhält? Gott verspricht uns Lebens-, nicht Leidensfreiheit, Hoffnung, nicht Glücksgarantie und seine Liebe – nicht die unserer Mitmenschen.
Hadern tue ich allerdings damit, wie diese eigentlich so großartige Botschaft von manchen, die sich in besonderer Weise dazu berufen sehen, sie zu verkünden, verdunkelt und in starre Lehrsätze gezwängt wird. Ich verstehe die Menschen, die aus der Kirche austreten, weil sie in ihr keinen Anknüpfungspunkt mehr für ihr eigenes Leben finden oder sich angesichts zum Beispiel des Missbrauchsskandals und des so furchtbar unzureichenden Umgangs damit wütend von ihr lossagen.
Aber es gibt eben auch die vielen Menschen, die sich in Institutionen der Kirche, etwa in der Caritas und in der Diakonie, den Menschen in Not widmen, sie in Krankheit und allen Arten von Bedürftigkeit begleiten. Dort kann Kirche strahlen.
DOMRADIO.DE: Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie eine Ethik aussehen muss, die einer modernen Gesellschaft mit ihren pluralen Wertevorstellungen gerecht wird. Wie sehr greift in Ihrem Alltag der Kompass Ihres katholischen Glaubens? Und welche Rolle spielt da Gott? Darf er überhaupt eine spielen, oder sind Sie als Forschende der weltanschaulichen Neutralität verpflichtet?
Woopen: Durch das Angebot der Universität Bonn, dort eine Professur zu übernehmen und ein Zentrum aufzubauen, habe ich die großartige Chance bekommen, einen neuen ethischen Ansatz zu entwickeln. Gemeinsam mit meinem Team aus vielen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen baue ich den Ansatz der Lebensethik aus. Sein Grundsatz lautet, dass das ethisch Gute darin besteht, die Entfaltung, Fülle, Schönheit und Verbundenheit allen Lebens zu achten oder zu fördern.
Nach den vielen Jahren meiner Auseinandersetzung mit der Ethik als einer philosophischen Disziplin und vor dem Hintergrund meiner auch langjährigen Erfahrungen in der nationalen und internationalen Politikberatung ist es mir ein besonderes Anliegen, Menschen mit ganz unterschiedlichen Menschen- und Weltbildern in einen Dialog zu bringen und gemeinsam eine gute Zukunft für alle zu schaffen, auch für das nicht-menschliche Leben.
Unser lebensethischer Grundsatz schließt zwar verschiedene Dinge aus, wie etwa Rassismus oder eine zerstörerische Ausbeutung der Natur, aber er ist offen für Menschen unterschiedlicher Religionen und auch nicht-religiöser Weltanschauungen.
Ich bin der Überzeugung, dass wir es angesichts der großen Herausforderungen im Kleinen wie im Großen nur schaffen, ein gutes Leben für alle zu ermöglichen, wenn wir voneinander lernen und uns über die ethisch zentralen Fragen verständigen: Was sind die besten Bedingungen dafür, dass sich alles Leben entfalten kann? Dass die vielen Facetten des Lebens, die seine Fülle ausmachen, zur Geltung kommen können? Dass die Schönheit des Lebens wertgeschätzt wird?
Und nicht zuletzt: dass wir der Verbundenheit allen Lebens gerecht werden? Es ist nicht schlimm und kann sogar inspirieren, wenn unterschiedliche Vorstellungen von einem guten Leben aufeinandertreffen, solange man in Freiheit und gegenseitigem Respekt im – manchmal auch gerne streitenden – Austausch darüber bleibt.
DOMRADIO.DE: Wie sehr wirkt sich das, was Sie tun, auf Ihren Glauben aus? Und umgekehrt: Wie notwendig ist der Glaube für Ihr Selbstverständnis, aber auch Ihr Wirken in Kirche und Gesellschaft?
Woopen: Mein persönlicher Glaube ist in der Lebensethik gut aufgehoben, weil sie die Würde und die Freiheit aller Menschen sowie den hohen Wert auch des nicht-menschlichen Lebens sehr ernst nimmt; notwendig aber ist der Glaube an Gott für diesen ethischen Ansatz nicht, man kann ihn auch aus anderen Überzeugungen heraus für richtig halten.
Wir arbeiten in unserem Center for Life Ethics mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aller Kontinente zusammen und machen immer wieder die Erfahrung, dass sie bei aller kulturellen Unterschiedlichkeit die Lebensethik als gemeinsamen Ausgangspunkt für den Dialog gerade durch seine Offenheit für Vielfalt sehr schätzen.
Es ist weniger mein Glaube als der lebensethische Ansatz, der meine Arbeit prägt. Ich möchte nicht andere vom Christentum überzeugen, aber davon, dass es eine gute Idee ist, in Freiheit und Frieden zusammen zu leben und gemeinsam unser Leben zu gestalten, auch wenn wir unterschiedliche Vorstellungen davon haben.
In Veranstaltungen und Gesprächen im "Haus für junges Denken", das ich als Schnittstelle zwischen Universität und Gesellschaft am Center for Life Ethics gegründet habe, sind wir dazu zum Beispiel im Austausch mit Schülerinnen und Schülern, Studierenden, Unternehmen und Organisationen, die mit ihren ganz eigenen Themen zu uns kommen und sich in Workshops, die wir dann eigens für sie entwickeln, Anregungen wünschen. Darüber hinaus bieten wir der Öffentlichkeit in unterschiedlichen Formaten den Dialog über Zukunftsthemen an. All diese Erfahrungen bereichern dann auch wieder unsere Forschung.