Dogmatiker Tück nimmt religiöse Indifferenz unter die Lupe

Ist Gott den Menschen heute egal?

Gott ist den Menschen heute egal. So lautet die Kernthese der religiösen Indifferenz. Wenn Gott den Menschen aber egal ist, dann gibt es auch kein angeborenes Verlangen nach Gott, wie die Kirche lehrt. Was heißt das für die Theologie?

Autor/in:
Johannes Schröer
Bücher in Kirchenbänken / © Daniel Schweinert (shutterstock)
Bücher in Kirchenbänken / © Daniel Schweinert ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Die einen sprechen von einer postsäkularen Welt, einer Wiederkehr der Götter und darüber, dass sich besonders junge Leute vom Evangelium angezogen fühlen. Andere sehen die Säkularisierung weiter voranschreiten und gehen davon aus, dass Gott im Bewusstsein der Menschen zunehmend verschwindet. Und wieder andere sprechen von einer punktuellen Renaissance des Katholischen. Wer hat denn nun recht?

Jan-Heiner Tück (privat)
Jan-Heiner Tück / ( privat )

Prof. Dr. Jan-Heiner Tück (Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien): Alle drei sind Deutungen der Transformation des religiösen Feldes. Interessant ist, dass es vor kurzem die These gegeben hat, die Säkularisierung habe nie wirklich stattgefunden. Was jedoch stattfindet, ist die Produktion von Idolatrie. Denn die Leute glauben zwar nicht mehr an Gott, dafür glauben sie aber an alles Mögliche: die Gesundheit, den Fußball, das Geld, den Körper etc. Diese These ist interessant. Sie bleibt aber die Erklärung schuldig, warum doch in westlichen Gesellschaften die Säkularisierung religionssoziologisch zunimmt. 

Jan-Heiner Tück

"Die Kirchen erodierend zwar, aber es gibt selbstgebastelte Formen von Spiritualität und Esoterik, die das gewissermaßen kompensieren."

Dann gibt es noch die zweite These, die besagt, dass die Gesellschaften immer weniger kirchen- und religionsbezogen aufgestellt sind. Wohingegen die dritte Position davon ausgeht, dass es eine Individualisierung und Pluralisierung von Religion gibt. Die Kirchen erodieren zwar, aber es gibt selbstgebastelte Formen von Spiritualität und Esoterik, die das gewissermaßen kompensieren. 

Zwischen der ersten und der dritten These gibt es vielleicht den Vergleichspunkt, dass gesagt wird, Religion ist ein konstanter Faktor, der sich auf unterschiedliche Weise äußert. Die mittlere Position bestreitet das und geht davon aus, dass wir mit Säkularisierungsschüben zu tun haben, die massiv sind und uns zu denken geben.

DOMRADIO.DE: Was ist dann von Meldungen zu halten, die von einer großen Zahl junger Menschen sprechen, die sich auf einmal taufen lassen? Aus Frankreich gibt es diese Meldungen, die punktuell auch aus den USA kommen. Lebt der Glaube also neu auf? 

Tück: Diese Meldungen muss man zunächst einmal einordnen: Es sind einerseits recht große Zahlen, aber auf die Gesamtgesellschaft betrachtet sind es auch wiederum sehr kleine Zahlen. Ich habe einen Doktoranden, der in Reims als Priester tätig ist, der beim Aschermittwochsgottesdienst total überwältigt war. Plötzlich war die Kathedrale rappelvoll mit Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren. 

Dieser Priester hat sich inzwischen Gedanken gemacht, woher kommt das. Einerseits wohl vom Einfluss von Instagram-Akteuren. Zweitens ist er der Meinung, dass die Orientierungslosigkeit und vor allem die Zukunftseintrübung bei der Generation Z groß sind. Und drittens, dass die jungen Leute erleben würden, wie präsent die muslimische Community ist und, dass sie sehr wohl ein klar formatiertes Bild von dem haben, wie die Welt vor Gott dasteht. 

Daraus entsteht nach Ansicht meines Doktoranden ein punktuelles, neues Interesse an der katholischen Kirche. Das muss man erst noch weiter beobachten, um wirklich beurteilen zu können, ob es sich hier um punktuelle oder um nachhaltige Entwicklungen handelt.

DOMRADIO.DE: Gott ist mir egal – das ist die Kernaussage der religiösen Indifferenz. Da stellt sich natürlich aus religionssoziologischer Sicht die Frage, wenn dem Menschen Gott egal ist, dann ist er von Natur aus auch gar nicht auf Gott hin ausgerichtet. Hat er also nicht, wie Thomas von Aquin behauptet, ein angeborenes Verlangen oder eine angeborene Sehnsucht nach Gott?

Jan-Heiner Tück

"Karl Rahner hat gesagt, der Mensch, der sich nicht auf Gott bezieht, ist wie ein findiges Tier, weil er das, was den Menschen auszeichnet – also den Gottesbezug – verleugnet."

Tück: Hier würde ich zur Vorsicht mahnen, denn das eine sind religionssoziologische Studien, die ein Nachlassen von Religion und Gottesbezug aufweisen können, das andere sind theologische Grundsatzoptionen. Es kann sein, dass Menschen, weil sie sich in einer bürgerlich-wohltemperierten Situation befinden, die großen Fragen gar nicht mehr stellen und auf sie auch nicht angesprochen werden. Sie können Gott nicht vergessen, weil sie nie auf ihn hingewiesen wurden. 

Das heißt aber nicht, dass in ihn als Person jetzt vielleicht doch so etwas wie eine Sehnsucht auf ein Größeres hin eingeschrieben ist. Nur ist diese Sehnsucht nie artikuliert worden. 

In diesen Debatten befinden wir uns gerade. Aber ich würde es für einen Fehlschluss halten, davon auszugehen, dass wir jetzt mit einer massiven religiösen Indifferenz konfrontiert sind und deswegen die Theologie von Augustinus über Thomas bis zum Zweiten Vatikanum revidieren müssen, die glaubt, dass der Mensch als Mensch auf das göttliche Geheimnis verwiesen ist. Da wäre ich sehr zurückhaltend. 

Symbolbild Menschen beten im Kölner Dom / © Julia Steinbrecht (KNA)
Symbolbild Menschen beten im Kölner Dom / © Julia Steinbrecht ( KNA )
So voll wie diese Kirchenbank im Kölner Dom sind die Gotteshäuser heute nur noch selten.

DOMRADIO.DE: Wenn nun jemand sagt, ich glaube nicht an Gott, aber ich bin ein glücklicher, zufriedener Mensch und wenn ich meine 90 Jahre gelebt habe und dann lebenssatt sterbe, fehlt mir nichts. Vielleicht spürt er oder sie diese Antenne, diese angeborene Sehnsucht nach Gott nicht.

Tück: Das ist eine Stimme im pluralen Konzert von Selbstdeutungen in einer hochdifferenzierten Gesellschaft. Das muss ich ernst nehmen und ich würde daraus auch theologisch die Folge ziehen, solchen Zeitgenossen nicht mit Defizitdiagnosen zu kommen. Karl Rahner hat gesagt, der Mensch, der sich nicht auf Gott bezieht, ist wie ein findiges Tier, weil er das, was den Menschen auszeichnet – also den Gottesbezug – verleugnet. Aber ich würde ihm die Überzeugung mitteilen, dass ein Leben mit Gott sehr wohl attraktiv ist, auch wenn der Glaube auch Zweifel kennt. Dann kann man vielleicht über diese Zweifel ins Gespräch kommen. Aber da gibt es keine Patentrezepte.

DOMRADIO.DE: Transzendenzerfahrungen kann man aber auch machen, ohne an Gott zu glauben, oder? 

Tück: Ich glaube, dass das Feld der Kunst, der Musik, der Literatur einen ganzen Fächer von Transzendenzerfahrungen ermöglicht. Viele Menschen gehen in Konzerte, besuchen Museen, weil sie dort das finden, was sie in den Kirchen nicht mehr finden: Die Ergriffenheit von etwas Größerem, das über sie selbst hinausgeht. Das ist einerseits erfreulich, andererseits ist es eben auch ein Potential, um ins Gespräch zu kommen. 

Ich glaube an dieser Stelle sollten Kirche, Pastoral und Theologie kreativer werden, diese Gesprächspotenziale zu nutzen. Wir befinden uns in einem ganz neuen Laboratorium, um die Attraktivität eines Lebens mit und für Gott und für die anderen neu aufzuschlüsseln. 

Crowdsurfing an einem Konzert / © Olga Visavi (shutterstock)
Crowdsurfing an einem Konzert / © Olga Visavi ( shutterstock )
Auch auf Konzerten ist die Erfahrung von Transzendenz möglich.

DOMRADIO.DE: Ist es nicht auch eine Frage der Entscheidung, für sich selbst den Glauben zu wählen?

Tück: Selbstverständlich. Man kann vom Glauben als eine Option unter vielen in einer multioptionalen Gesellschaft sprechen. Früher war es selbstverständlich, an Gott zu glauben. Man konnte quasi gar nicht nicht an Gott glauben. Heute ist es umgekehrt: Der Glaube ist eine Option, oft auch eine unbequeme. Aber vor dem Hintergrund der großartigen, vielstimmigen Tradition und der glaubwürdigen, faszinierenden Personen, die den Glauben leben, ist es nach wie vor eine das Leben bereichernde Sache, für die es sich einzutreten lohnt. 

Jan-Heiner Tück

"Die Leute glauben nicht in einem geringeren Umfang, weil die Kirche zu schlecht wäre."

DOMRADIO.DE: Was kann die Kirche aus diesen Debatten lernen? Welche Schlüsse sollte sie daraus ziehen, dass es vielleicht doch kein angeborenes Verlangen des Menschen nach Gott gibt? 

Tück: Ich bin sehr wohl der Überzeugung, dass es eine Sehnsucht im Menschen gibt, die durch die Idole, von denen wir am Anfang gesprochen haben, letztlich nicht befriedigt wird. Diese Sehnsucht zeichnet sich dadurch aus, dass sie immer auf ein Größeres abzielt. Wenn Menschen das nicht empfinden, dann ist das so und ich muss das zur Kenntnis nehmen. Aber ich denke nicht, dass man deshalb jetzt das theologische Menschenbild revidieren sollte. Aber darin steckt natürlich die Aufgabe, sich zu überlegen, wie man in einem Zeitalter der religiösen Indifferenz den Glauben weitergeben kann. 

Zuerst ist es wichtig, dass man von Optimierungsstrategien Abschied nimmt, die Druck aufbauen. Die Leute glauben nicht in einem geringeren Umfang, weil die Kirche zu schlecht wäre. Nein, das sind gesellschaftliche Rahmenparameter, die auch den tangieren, der alles in der Pastoral einsetzt, um gut dazustehen. Daher ist es eine gewisse Entlastung. 

Zweitens geht damit der Appell einher, nach neuen Formen ansprechender Glaubensweitergabe zu suchen, die das Positive in den Mittelpunkt stellt. Und hier können Kunst, Musik und Literatur wiederum eine Brücke sein, weil sie ja nicht nur Brücken zur Transzendenz sind, sondern gleichzeitig auch Medien sind, die Inhalte und Motive des katholischen Kosmos speichern und tradieren – und so neu neugierig machen auf das, was den Glauben ausmacht. 

Das Interview führte Johannes Schröer.

Quelle:
DR

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