DOMRADIO.DE: "In die Sonne schauen" ist nicht chronologisch erzählt. Wie ist der Film aufgebaut?
Uwe Reckzeh-Stein (Theologe und Podcaster der "Popcornpilger"): Es werden die Geschichten von vier jungen Frauen erzählt. Die spielen an einem Ort, auf ein und demselben Hof. Man sieht sie aus der Perspektive schwebender Geister, sozusagen von oben herein. Der Fokus liegt auf diesen jungen Frauen. Es ist ein Jahrhundert Geschichte an einem Ort, und die Jahrzehnte wechseln immer wieder.
Es sind sehr unterschiedliche, nicht chronologische Zeitebenen. Manchmal ist man Beobachter, manchmal ist man wie eine Präsenz in einer Zeit, die eigentlich nicht mehr ist. Das ist relativ verwirrend. In einem Satz kann man sagen, der Film zeigt weibliche Geschichten an einem Ort in vier Epochen eines Jahrhunderts.
DOMRADIO.DE: Zeigt der Film einen frischen Blick?
Reckzeh-Stein: Ich weiß nicht, ob frisch hier das richtige Wort ist. Wenn ich dem Film ein Prädikat nicht geben würde, wäre das frisch. Er ist zeitgemäß. Außerdem ist es wichtig, stärkere weibliche Perspektiven zu zeigen. Denn er hat eine weibliche Perspektive auf Gegenwartsfragen. Diese Fragen sind, so wie die Zeit gerade ist, drückend bis erdrückend.
Der Film ist sehr schwergängig, teilweise langatmig. Meines Erachtens steckt eine Absicht dahinter. Ich finde es sehr radikal, auch radikal gut, diese starke weibliche Perspektive auch auf Männlichkeit, Zeit, Religion und auf die großen Fragen zu bekommen.
DOMRADIO.DE: Religion spielt vor allem in der ersten Generation eine Rolle, in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Wie tritt sie in Erscheinung?
Reckzeh-Stein: Das genommene Vehikel ist der Protestantismus. Das ist vor allem ein moralgebender, normativer Protestantismus um die Jahrhundertwende herum. Das bedeutet, er ist dafür da, Strukturen und Hierarchien zu festigen.
Er ist da, um Regelkorsette zu geben. Er projiziert sozusagen den Gottesbegriff als die überschwebende Vaterfigur auf die väterlichen Gestalten. Darüber wird die Hierarchisierung auf dem Hof definiert. Dafür ist Religion da. Der ganze Film drückt eine radikale Taubheit des Göttlichen aus. Die Abwesenheit Gottes wird einem, ich will mal sagen, in die Venen indiziert.
Der Film ist die ganze Zeit hoffnungslos. Wenn es einen Gott, einen größeren Sinnzusammenhang gibt, dann ist er nicht unser Freund. Das ist so das religiöse Moment hier.
DOMRADIO.DE: Der Tod ist ein Thema in allen dargestellten Zeiten. Welche Bedeutung hat er?
Reckzeh-Stein: Ich würde sagen, der Tod ist das zentrale Thema. Man könnte sagen, der Tod ist der Protagonist des Films, auf eine sehr faszinierende Weise, wie ich finde. Das nötigt mich, den Film noch mal zu gucken, obwohl ich nicht das Bedürfnis danach habe. Denn der Film ging mir sehr nah.
Der Tod ist das Thema, weil es um Unverfügbarkeit geht. Es geht darum, dass der Mensch – hier mit Fokus auf diese Mädchen und jungen Frauen – nur eine kurze Zeit in dieser Welt hat. Die Welt ist schon da und man hat nur eine sehr kurze Zeit. Es geht um Strukturen, Moral, Familienverhältnisse und Traumata, die früher erlebt wurden und sich durch die Zeit erhalten.
Das zieht sich durch und ich habe keine Verfügung darüber. Ich werde zum Beispiel zum sexuellen Objekt gemacht, aber ich bin meinem eigenen erwachenden sexuellem Verlangen auch irgendwie hilflos gegenübergestellt.
Epigenetik und transgenerationale Traumata sind wichtige Themen im Film. Ich starte das Leben als junger Mensch, aber bin mit meiner eigenen Sterblichkeit und Zerbrechlichkeit ständig konfrontiert. Das sieht man beispielsweise beim Betrachten des abgehackten Beines des Bruders, später Onkels, das immer wieder gezeigt wird. Es zeigt die Zerbrechlichkeit und die Varianz; was dieser menschliche Körper ist.
In allen vier Epochen und im ganzen Filmen geht es darum, wie ich mir ein Stück weit eine Verfügungskraft zurückholen kann und sei es über den Tod. Die stärkste Macht, die über der Szene schwebt, ist die, in der ich versuche, mich zu bemächtigen und sei es im Wiederholen, im Abbilden oder Gleichmachen mit dem Tod, in dem ich ihn mir zu einem Kompagnon mache oder den Freitod wähle.
DOMRADIO.DE: Um Marscha Schielinski und ihren Film ist ein regelrechter Hype entbrannt. Auch aus dem Ausland kommen viele begeisterte Kommentare. Kann man das verstehen?
Reckzeh-Stein: Ich verstehe das, weil das ein Experiment ist. Das ist einerseits mutig, andererseits aber auch authentisch. Die Filmemacherin hat sich nicht geschert, was andere denken, sondern hat ein Drehbuch über eigene und allgemeine Fragen geschrieben. Sie stellt fragen zu Endlichkeit, Tod und Leben sowie Verhandlung von Werten.
Sie hat dieses Experiment einfach gewagt. Der Film ist schwer und ist keine Unterhaltung in dem Sinne. Man isst bei diesem Film kein Popcorn. Das kann ich versprechen. Das Popcorn bleibt einem im Hals stecken. Dass er dafür gelobt wird, kann ich sehr gut verstehen. Ich kann auch die andere Seite verstehen, die sich etwas Hoffnungsvolles wünscht. Aber der Kommentar zu dieser Perspektive muss möglich sein.
DOMRADIO.DE: Erinnert der Film an das "Weiße Band"?
Reckzeh-Stein: Ja, ich hab mir zum Vergleich noch mal die Trailer angeguckt. Diese strenge religiös-hierarchische Strukturiertheit der Familie erinnert an die erste Epoche. Der Film stell dann aber doch andere Fragen. Es gibt jedoch eine Überschneidung in der Frage nach dem Umgang mit Traumata und Weitergabe von Verletzungen durch die Zeit.
Das Interview führte Hilde Regeniter.