Aschenbach hat Angst. In einer Schaffens- und Lebenskrise flüchtet er an seinen Sehnsuchtsort - doch statt neue Tatkraft zu entwickeln, stürzt er in Rausch, Kontrollverlust und Versuchung. Wird er je wieder herausfinden? Will er das überhaupt noch, wenn sein Blick auf den jungen Tadzio fällt? Thomas Manns Erzählung "Der Tod in Venedig" ist in Teilen autobiografisch inspiriert - als auch vom Philosophen Friedrich Nietzsche, der am Montag vor 125 Jahren starb, am 25. August 1900 in Weimar.
Denn der - fiktive - Schriftsteller Gustav von Aschenbach erlebt eine Zuspitzung dessen, was wohl jeder Mensch kennt - und was Nietzsche als Wettstreit zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen beschrieb. Das Begriffspaar, ursprünglich aus der griechischen Tragödie entlehnt, zählt zu Nietzsches wichtigsten Denkfiguren. Apollinisch, das steht für geistige Klarheit und Askese: genau das also, was Aschenbach lange gelebt hat und ausgerechnet in der Grachtenstadt sucht. Doch angesichts der offenkundigen Schönheit und Vergänglichkeit lockt ihn das Dionysische, also das Sinnliche, Ungeordnete und Maßlose.
Theologie-Studium währte nur kurz
Nietzsche war nie in Venedig. Aber er war ein Seismograf für die Erschütterungen der Moderne. 1844 in Röcken, heute Sachsen-Anhalt, geboren, wuchs er nach dem frühen Tod seines Vaters - einem evangelischen Pfarrer - in einem frommen "Frauen-Haushalt" auf. Schon als junger Mann las er Ludwig Feuerbachs Werk "Das Wesen des Christentums", das dessen Fundamentalkritik am Christentum enthält.
Zunächst studierte Nietzsche dennoch evangelische Theologie, brach aber rasch ab, um sich ganz der klassischen Philologie zu widmen. Er erwies sich als so exzellent, dass er ohne Doktortitel eine Stelle als Professor in Basel erhielt. Diese Tätigkeit musste er allerdings mit 35 Jahren krankheitsbedingt aufgeben. Seine Bewunderung für Arthur Schopenhauer verflog ebenso wie die Freundschaft zum Komponisten Richard Wagner, weil er von den allerersten Bayreuther Festspielen 1876 enttäuscht war. Die antisemitischen Schriften des Musikers hatte er stets kritisiert, auch wenn seine eigenen Schriften später vom Nationalsozialismus pervertiert wurden.
Abgehobenes Image trifft nicht ganz
Dass Nietzsche das Image eines düsteren, irgendwie "irren" Denkers anhängt, liegt nur zu Teilen an seinem tatsächlich tragischen Lebensende. 1889 kam er nach einem Zusammenbruch in eine "Irrenanstalt", wie man damals sagte; danach wurde er von seiner Mutter und später seiner Schwester gepflegt. Möglicherweise litt er an einer damals unbekannten Erbkrankheit, die das Gehirn betrifft und zu Schlaganfällen führt - vor seinem Tod erlitt er gleich mehrere.
Bekannt sind zudem popkulturelle Darstellungen, die zu einem kauzigen, verlorenen Einzelgänger passen wollen: Die bekannte Fotoserie "Der kranke Nietzsche" zeigt den Philosophen nicht nur mit seinem markanten Schnauzbart, sondern auch schielend; im Roman "Und Nietzsche weinte" des Psychoanalytikers Irvin D. Yalom spielen seine Suizidgedanken und die unglückliche Liebe zu Lou Andreas-Salomé eine wichtige Rolle.
Kein persönliches Glaubensbekenntnis
Ihn auf die letzte Lebensphase oder seine psychischen Erkrankungen zu reduzieren, wird dem Denker aber wohl ebenso wenig gerecht wie die Wahrnehmung seines bekanntesten Satzes. "Gott ist tot" - das beschrieb eine kulturelle Entwicklung, war - trotz aller Kritik Nietzsches an Religion, Moral und Christentum - keineswegs reine Provokation. Die Dichtung um den Aphorismus herum lässt den Tod Gottes vielmehr bedrohlich erscheinen.
"Die Werte der Gesellschaft haben ihren Inhalt verloren, für die Lebenswelt der Menschen haben sie also keine Gültigkeit mehr. Gott als oberster Garant der Werte ist damit obsolet geworden", erklärt die Philosophin und Moderatorin Olivia Röllin auf dem Portal srf.ch. Nietzsche sah die Moderne in einer Sinnkrise. Über seinen persönlichen Glauben sagen die bekannten Zitate nach einhelliger Forschungsmeinung wenig aus.
Was Nietzsches Ideen heute bedeuten können
Der "Übermensch" - ebenfalls eine der wohl bekanntesten Formulierungen: Damit wollte der lange staatenlose Nietzsche keinesfalls den Weg für den Faschismus bereiten. Vielmehr ging es ihm um Schaffenskraft und Härte, auch gegenüber sich selbst. Seinen Ruhm ab den 1890er Jahren erlebte er indes nicht mehr mit, sondern starb im Alter von 55 Jahren im Jahr 1900. Er wurde an der Röckener Dorfkirche im Familiengrab beigesetzt. Mit seinen Ideen und seinem Stil sprengte Nietzsche die Grenzen des Denkens, das bis zu seiner Zeit üblich gewesen war, und er fordert noch immer heraus.
Viele seiner Fragestellungen sind angesichts heutiger Sinnkrisen besonders relevant: Institutionen verlieren an Glaubwürdigkeit; nicht wenige Menschen fürchten eine Rückkehr von Stammesdenken statt gemeinsamen Werten; das Elend durch Kriege und Klimakrise lässt, wenn nicht auf eine Tötung Gottes, dann doch auf Gottvergessenheit oder Gottlosigkeit schließen. Was Nietzsche prägte, nennt man heute derweil "Lebensphilosophie" - eine Einladung zur Übernahme von mehr Verantwortung. Dazu gehört auch, Werte nicht unhinterfragt zu übernehmen, sondern sie bewusst zu formen: Nur dann tragen sie dauerhaft.