DOMRADIO.DE: Warum ist Putin die russisch-orthodoxe Kirche so wichtig, dass er sie bei den Friedensverhandlungen thematisiert? Welche Interessen verfolgt er damit?
Dr. Regina Elsner (Theologin und Osteuropaexpertin): Das Thema Religion und russische Orthodoxie in der Ukraine ist für Wladimir Putin bereits seit 2014 eines der wichtigsten Themen. Man kann sagen, dass er darüber eine seiner Hauptinteressen sichert: den dauerhaften Einfluss auf die Ukraine.
Das sieht man bei all den Themen, ob militärisch, wirtschaftlich oder gesellschaftspolitisch. Es geht immer darum, dass Putin hier sichern möchte, dass Russland seinen Einfluss auf die Ukraine behält. Er möchte außerdem sichern, dass die Ukraine keinerlei Eigenständigkeit und keine eigenständige Identität entwickeln kann, sondern Teil Russlands bleibt.
Die Kirchenfrage und die Sprachenfrage sind zwei zentrale, quasi hybride Kriegswaffen. Das sehen wir seit 2014. In dem Memorandum, das Russland 2025 für einen möglichen Frieden veröffentlicht hat, stand die Kirchenthematik sehr weit oben. Es ist letztendlich eins der Themen, bei denen Russland seit vielen Jahren Einfluss ausübt, Einfluss behalten möchte und bei denen man die Ukraine nicht vom Haken lassen möchte.
DOMRADIO.DE: Das ist demnach keine neue Forderung, aber was genau ist der Wunsch des russischen Präsidenten? Will er, dass die russische Kirche nicht mehr verboten wird? Oder dass die Lossagung der ukrainisch-orthodoxen Kirche, die 2022 stattgefunden hat, rückgängig gemacht wird?
Elsner: Die Situation ist kompliziert. In der Ukraine gibt es seit 1991 keine Russisch-Orthodoxe Kirche mehr, das Moskauer Patriarchat hat seiner sozusagen eigenen Abteilung in der Ukraine eine relativ große Autonomie überlassen. Es gab dann Spaltungstendenzen und es gab eine zweite orthodoxe Kirche in der Ukraine. All das hat sich seit über 30 Jahren aufgebaut.
Es gab immer noch eine Kirche, die in Gemeinschaft mit Moskau war. Es war keine Russisch-Orthodoxe Kirche, sondern die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche in Gemeinschaft mit Moskau. Diese Kirche war immer schon in den Augen der russischen politischen Führung ein Instrument, um Einfluss in der Ukraine zu haben und Interessen zu vertreten.
Deswegen hat die Ukraine seit 2022 diese Kirche stark unter Druck gesetzt. Man hat gefordert, dass sie sich eindeutig lossagt. Dass sie sich trennt. Das hat sie im Mai 2022 versucht, das ist ihr aber nicht abgenommen worden. Man sagte, dass es nicht aufrichtig sei. Es gebe trotzdem noch Verbindungen.
Es laufen auch mehrere Strafverfahren gegen Priester und Bischöfe, die offensichtlich mit Russland und mit den russischen Streitkräften kollaboriert haben. Das heißt, man versucht hier in der Ukraine, einen großen Druck aufzubauen. Das nutzt Russland stark, um zu behaupten, dass Christen in der Ukraine verfolgt werden würden.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Ukraine religionspolitisch Schwierigkeiten hat. Es gibt Probleme in der Art und Weise, wie dieser Druck aufgebaut wird. Aber es ist zynisch von der russischen Seite, zu behaupten, dass hier Christenverfolgung stattfinden würde, angesichts der Tatsache, dass Russland keinerlei Religionsfreiheit in den besetzten Gebieten oder in Russland selbst zulässt. Das ist höchst problematisch und überhaupt nicht angemessen der Situation in der Ukraine.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt dabei die Vorstellung, die ehemalige Sowjetunion sei das kanonische Territorium der Russischen Kirche?
Elsner: Mit dieser Vorstellung hantiert die Russisch-Orthodoxe Kirche schon seit dem Ende der Sowjetunion, weil man sich diese Einflusssphären gerne auch kirchlich sichern wollte. Es gab auch in den Kirchen der baltischen Staaten Unabhängigkeitsbewegungen.
Es gab in der Ukraine schon lange den Wunsch, kirchliche Selbstständigkeit zu erreichen. Diese Idee des kanonischen Territoriums führt dazu, dass man kirchenrechtlich sagen kann, nationale Grenzen seien unwichtig: Wir haben eine spirituelle Gemeinschaft, eine geistliche Gemeinschaft, und nationale Grenzen interessieren uns nicht.
Das hat sich als eines der wirksamsten Mittel herausgestellt, diese Länder im Orbit Moskaus zu halten und darauf auch immer wieder hinzuweisen im internationalen Kontext: Diese Völker gehören zusammen. Wir haben eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame kirchliche Tradition. Man kann uns nicht trennen, vor allem nicht durch europäische Diskussionen oder Werte.
DOMRADIO.DE: Wenn es nach Putin geht, wäre Russisch die offizielle Amtssprache in der Ukraine. Wie hängt das damit zusammen? Würde sich das auch auf die Kirchen auswirken?
Elsner: Ich würde sagen, in dieser Liste von Themen, die Putin in den Verhandlungen bringt, sind das die beiden Themen, die nicht knallharte militärische Interessen sind, sondern bei denen man versucht, eine internationale Menschenrechtsagenda aufzurufen und damit auch Spaltung in die internationale Gemeinschaft zu bringen.
Die Sprachen- und die Kirchenfrage sind zwei Themen, mit denen Russland Einfluss sichert. Sie haben beide wenig mit der Realität in der Ukraine zu tun, in der Russisch nicht verboten ist. Es gibt durchaus einen Wunsch, Ukrainisch zu stärken, und das legt man auch gesetzlich fest. Aber es ist nicht so, dass dort überall eine Polizei herumlaufen würde und Russisch verbieten würde.
Diese Vorstellung wird hergestellt. Aber für die ukrainische orthodoxe Kirche hätte diese Frage, glaube ich, die gleichen Konsequenzen wie für den Rest der ukrainischen Bevölkerung. Es ist ein Mittel, um mehr Repressionen von russischer Seite durchzusetzen.
Die Liturgie in der ukrainisch-orthodoxen Kirche ist Kirchenslawisch mit einem ukrainischen Slang, würde ich mal sagen. Ansonsten sprechen die meisten Menschen in dieser Kirche genauso Ukrainisch und Russisch in ihrem Privatleben wie der Rest der ukrainischen Bevölkerung.
DOMRADIO.DE: Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es dazu kommt, dass Putins Wünsche erfüllt werden?
Elsner: Das hängt von der größeren Karte ab. Was man schon sagen kann, ist, dass mit der Kirchenfrage ein Thema gewählt ist, was die Partner international verunsichert.
Ich würde sagen, in den USA gibt es große Sympathien für diese Thematik. Es gibt die US-amerikanischen Evangelikalen, die sagen, dass es ein Thema sei, bei man die Ukraine nicht laufen lassen darf. Sie schlagen sich auf die Seite Russlands in dieser Frage.
Wenn man das durchhält, wenn die USA diesen großen Einfluss behalten, dann wird die Religionsthematik für Russland weiter eine bedeutende Rolle in den Friedensverhandlungen spielen. Das wird zum Nachteil der Ukraine sein. Denn es hält diesen russischen Einfluss sehr stark innerhalb der Ukraine.
Das Interview führte Elena Hong.