DOMRADIO.DE: Warum ist Chemnitz Kulturhauptstadt geworden?
Dr. Ulrike Lynn (Beauftragte der katholischen Kirche für die Kulturhauptstadt Chemnitz): Es gibt viele Gründe dafür, warum Chemnitz Kulturhauptstadt geworden ist. Wenn wir uns am Motto der Kulturhauptstadt orientieren "C the Unseen", also "Sieh das Ungesehene", dann passt das gut zu Chemnitz. Die Stadt liegt zwischen der Landeshauptstadt Dresden und dem schillernden Leipzig oft im Schatten, ist also gewissermaßen das Ungesehene, hat aber dafür doch eigentlich total viel zu bieten.
Chemnitz ist sehr grün, voller kreativer Menschen, die sich engagieren. Es gibt einen ganz besonderen Spirit hier. Auch wenn Chemnitz auf den ersten Blick vielleicht nicht glänzt, es schimmert im Verborgenen. Es ist eine Stadt, die man erkunden und erspüren muss. Und je länger man bleibt, desto mehr verliebt man sich in sie.
Chemnitz bringt viele gute Gründe mit, Kulturhauptstadt zu sein. Vor allem aber ist es das Potenzial, das hier steckt und jetzt in diesem Jahr sichtbar wird. Genau das macht auch die europäische Komponente in diesem Jahr so stark.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt die Kirche dabei?
Lynn: Erstaunlicherweise spielt die Kirche hier in Chemnitz eine starke Rolle und das, obwohl wir uns in einer ostdeutschen Diaspora befinden. Nur etwa 13 Prozent der Bevölkerung sind Christen, davon gerade einmal zwei Prozent Katholiken. Wir bringen uns aber einfach ein. Wir haben früh verstanden, dass das Motto "C the Unseen"– "Sieh das Ungesehene" nicht uns Christen meint, obwohl auch wir hier oft ungesehen bleiben. Vielmehr haben wir verstanden, dass es heißt, dass wir eine dienende Kirche sind. Wir gehen dorthin, wo Menschen übersehen werden, wo unsere Aufmerksamkeit, unsere Wertschätzung und unsere Hilfe gebraucht werden. Ganz im Sinne unseres christlichen Auftrags.
"C the Unseen" wird ja mit einem großen C geschrieben, als Hinweis auf Chemnitz und gleichzeitig auf Englisch ausgesprochen "sehen" bedeutet. Aber wir lesen in diesem C auch Christus mit, den Ungesehenen schlechthin. Diese doppelte Bedeutung ist für uns eine wunderbare Steilvorlage, um als Christen in dieser Stadt aktiv zu sein.
DOMRADIO.DE: Können Sie ein oder zwei konkrete Beispiele nennen, welche Projekte oder Angebote die Kirche denn in diesem Jahr bei der Kulturhauptstadt einbringt?
Lynn: Direkt vor der Tür steht unser großes Kulturkirchenfest. Wer also Lust hat, der soll gerne Ende August nach Chemnitz kommen. Am 30. und 31. August wird die Stadt mit einem Fest vibrieren und beben, das vielleicht ein wenig an einen Kirchentag erinnert, aber bewusst nicht so genannt wird. Es wird ein Wochenende voller Musik, Spiritualität, Gesprächsformate, Konzerte, Diskussionsrunden, Vorträge und hoffentlich ganz viel Sonnenschein geben und es ist eine Stadt, die hier im christlichen Auftrag unterwegs sein wird.
Aber natürlich gibt es nicht nur dieses Highlight. Das ganze Jahr über bietet die Kirche ganz viele Angebote. Es fällt mir schwer, da nur zwei oder drei Beispiele herauszugreifen. Wer neugierig ist, kann gerne auf unserer Website www.kulturkirche2025.de vorbeischauen. Dort gibt es das komplette Programm.
DOMRADIO.DE: Das Jahr ist jetzt etwas mehr als zur Hälfte rum, können Sie eine kleine Bilanz ziehen?
Lynn: Ich habe sogar schon eine schriftliche Bilanz gezogen, die Halbjahresbilanz, die man auch auf der Webseite findet. Es ist schon extrem viel passiert. Damit meine ich nicht nur die Veranstaltungen, die wir selbst organisiert oder begleitet haben, sondern vor allem die Prozesse. Das liegt uns besonders am Herzen. Denn gerade in diesen Prozessen steckt das, was langfristig wirkt.
Es geht um das, was durch Zusammenarbeit, durch gemeinsame Wege wächst. Genau das ist es, was hoffentlich bleibt: Eine intensiv und wunderbar gelebte Ökumene, ein Miteinander, eine gemeinsame Stimme der Christen in dieser Stadt. Es entstehen Begegnungen, neue Perspektiven. Augen öffnen sich, ganz im Sinne des Mottos "C the Unseen". Verborgenes wird sichtbar, Unerkanntes wird entdeckt. Ich hoffe sehr, dass genau das auch über das Jahr 2025 hinauswirkt und uns als Stadt und als christliche Gemeinschaft weiter verbindet.
DOMRADIO.DE: Daraus hört man ein wenig heraus, dass Sie durchaus eine veränderte Wahrnehmung der Kirche in Chemnitz und der Region feststellen.
Lynn: Auf jeden Fall, das stelle ich ganz klar fest. Das gilt vielleicht nicht für ganz Ostdeutschland, aber hier in Chemnitz hat die Kirche inzwischen ein anderes Standing als noch vor einem Jahr. Die Stadt wünscht sich unsere Präsenz, gerade auch darin, das "Ungesehene" aufzuspüren. Das spürt man in der Zusammenarbeit, in der Art, wie wir eingeladen werden, wie wir sichtbar auftreten dürfen. Das ist eine sehr schöne Entwicklung und hoffentlich etwas, das weit über das Kulturhauptstadtjahr hinaus trägt.
Das Interview führte Oliver Kelch.