DOMRADIO.DE: Wie bewerten Sie aus heutiger Sicht die Aussage "Wir schaffen das"? War es richtig, dass die damalige Kanzlerin Angela Merkel das gesagt hat?
Dr. Frank Johannes Hensel (Diözesan-Caritasdirektor für das Erzbistum Köln): Um dem Ganzen einen Rahmen zu geben, in dem man erstmal etwas angehen möchte, war das ermutigend. Klar ist, wir schaffen so etwas nicht alleine. Es ist auch nicht nur eine Phase, die dann sehr bald vorübergeht. Das waren Einschätzungen, die sich nicht als tragend erwiesen haben.
Wir merken ja, dass wir es zum einen nicht als deutsche Gesellschaft alleine schaffen, weil wir selber ohne Migration und Flucht gar nicht klarkommen würden. Aber so wie sie ist, kommen wir auch nicht gut klar. Darum brauchen wir auch unsere europäischen Nachbarn. Ein Alleingang oder ein nationaler Gang ist das also nicht.
DOMRADIO.DE: Was würden Sie denn jetzt, zehn Jahre später, sagen? Kann man sagen, wir haben das geschafft? Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Hensel: Wir sind richtig gut. Diejenigen, die geflüchtet sind, kommen sehr beladen zu uns. Die können nicht gleich am ersten Tag loslegen, sie sind ja nicht einfach mal umgezogen. Und knapp die Hälfte ist schon in sozialversicherungspflichtiger Arbeit. Das ist ein Erfolg. Ohne diese starken Kräfte, die zu uns kommen, kämen wir in vielen Branchen gar nicht klar. Das sollte auch jeder wissen.
Uns belastet, dass es so ungeregelt wirkt und dass wir gar keine richtige Organisation des Zuzugs haben, sondern alles unter "Flucht" läuft und dadurch auch das Asylrecht mittlerweile national und international sehr geschliffen wird. Das merken wir in der Politik.
Es hat uns auch im demokratischen Lager mehr und mehr erschüttert, weil es sehr robuste bis radikale Abwehrbewegungen gibt. Die hat es bei solchen größeren Migrationsbewegungen, die die Geschichte stets geprägt haben und immer die Zukunft einer Gesellschaft bestimmen, immer schon gegeben. Wir stecken da jetzt mittendrin.
DOMRADIO.DE: Der Satz hat auch ganz viel Positives ausgelöst, gerade auch im Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln. Wie sehen Sie das?
Hensel: Um da nicht naiv oder schwärmerisch zu klingen, einfach mal die Fakten dazu: Wir haben hier im Erzbistum Köln über 60 Millionen Euro investiert. Es gibt eine große Unterstützung, die wir hier im ganzen katholischen Bereich durch den Erzbischof und durch die über 20.000 Ehrenamtlichen in den Gemeinden erfahren.
Alleine auf Pfarrgemeinde-Ebene haben wir 1.700 Initiativen in der Flüchtlingsarbeit, die unter dem Namen "Aktion Neue Nachbarn" laufen. Die Aktion ist deutschlandweit bekannt, gerne gesehen und läuft bereits zehn Jahre lang. Wir haben 20 Integrationsbeauftragte. Fast 40.000 Geflüchteten haben wir Deutschkurse gegeben. Zudem haben wir 40 Willkommencafés gegründet.
Wir haben Job-Patenschaften, auch von sogenannten Peers, also Leuten, die hier in Arbeit gefunden haben. 100 Leute sind das, die andere begleiten, um auch in Arbeit zu finden. Und dann nochmal 550 weitere, die schon vorher hier waren. Mit solchen Zahlen können wir aufwarten.
Das alles ist eine große Erfolgsgeschichte, mit sehr viel Begegnung und Berührung. Wenn man dahin schaut, dann guckt man natürlich viel ermutigter auf diese kulturelle Herausforderung, dass hier Menschen aus ganz verschiedenen Stellen der Erde mit ganz verschiedenen Belastungen zusammenfinden müssen.
DOMRADIO.DE: Was sagen denn die Menschen und Institutionen, die sich vielleicht ein bisschen überfordert fühlen durch die zunehmende Aufnahme? Was bekommen Sie da mit?
Hensel: Ein echtes Problem ist, dass man mittlerweile bei vielen gar nicht mehr so dafür bewundert wird, sondern als "Gutmensch" dasteht, der da etwas tut, wo das doch irgendwie alles nicht mehr so richtig ist. Wir verlieren Zuspruch und an mancher Stelle auch Ehrenamt.
Wir erleben aber auch genau das Gegenteil, also eine ganz stabile, sehr treue und sehr verlässliche Unterstützung in dieser ganzen Geflüchteten-Arbeit. Sie können diese ganze Entwicklung immer nur dann gut ablehnen, wenn Sie keinen richtig kennen oder wenn Sie sich nur was erzählen lassen.
Wenn Sie aber persönlich merken, wie da jemand darum kämpft, hier ein Leben aufzubauen, dann ist das schon sehr motivierend. Die Menschen kommen ja nicht, um hier von der Stütze zu leben. Das ist schon enorm, welche Kraft sie aufbringen und welche Handicaps sie verarbeiten müssen. Wenn man das weiß, dann spricht man auch differenzierter darüber.
Das Interview führte Julia Reck.