DOMRADIO.DE: Ist das päpstliche Schreiben ein Appell an unser Gewissen gewesen?
Prof. Dr. Kerstin Schlögl-Flierl (Inhaberin des Lehrstuhls für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg und Mitglied des Deutschen Ethikrates): Dieses Schreiben hat ganz viele Ebenen. Auch ein Appell an unser Gewissen. Es werden viele Tugenden genannt, die wir ausbilden sollen. Und es geht vor allem darum zu sagen, dass der oder die Einzelne etwas tun kann.
DOMRADIO.DE: Es gab einen interdisziplinären Ansatz bei der Entstehung von "Laudato si". Franziskus hatte viele Experten aus den Bereichen Umweltwissenschaften, Ökonomie, Sozialwissenschaft sowie Vertreter von NGOs hinzugezogen. Und diese Form war absolut neu.
Schlögl-Flierl: Als Moraltheologin, die auch ganz viel zum Thema Beziehungsethik und Sexualmoral macht, finde ich das natürlich einen tollen Ansatz, weil die Sachanalyse damit wirklich von Expertinnen und Experten getragen ist.
Das ist etwas, was im päpstlichen Tun bis dato, also bis "Laudato si", eher nicht üblich war. Deswegen auch dieser große Paukenschlag, eine Sachanalyse zu haben, die von den Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und weiteren Wissenschaften gefüttert ist.
DOMRADIO.DE: Häufig hört man nur den Begriff Umwelt-Enzyklika, aber diese Reduzierung trifft es nicht ganz, oder?
Schlögl-Flierl: Würde ich auch sagen. Klar braucht man einen knackigen Begriff, um sie irgendwie in die lange christliche Soziallehre einzusortieren. Aber eigentlich ist es eine Sozialenzyklika, weil Papst Franziskus schon vor zehn Jahren darauf aufmerksam gemacht hat, dass Umweltbelange nur umgesetzt werden, wenn sie auch sozial gerecht verteilt werden, also wenn Lasten und Verantwortlichkeit auch in sozialer Gerechtigkeit gedacht werden.
DOMRADIO.DE: Er kritisiert darin unter anderem den exzessiven Konsum. Was würden Sie sagen, wie wurde diese Kritik in den Jahren seit der Veröffentlichung von Kirche und Gesellschaft aufgenommen?
Schlögl-Flierl: Ich würde sagen in Wellen. Die Konsumkritik ist etwas, was ihm manchmal vorgeworfen wurde, manchmal sehr ernst genommen wurde. Ich sehe eher, dass er in der Enzyklika klarzumachen versucht hat, dass der Konsument, die Konsumentin auch Verantwortung hat, der Staat und die Struktur aber auch mit eingreifen muss.
Von dem her ist die Konsumkritik nur eine Facette. Und wenn man nur eine Facette beleuchtet, dann kann es leicht ins Negative kippen.
Ich würde auch sagen, dass wir unseren Konsum überlegen müssen. Aber wirklich revolutionär war die Enzyklika darin, dass Franziskus statt Effizienz und Konsistenz, nun Suffizienz, also die Frage nach dem Genug dargestellt hat und nicht mehr die Frage nach dem Höher, Schneller, Weiter.
DOMRADIO.DE: War "Laudato si" auch ein politischer Weckruf?
Schlögl-Flierl: Es wird der Enzyklika nachgesagt, dass er auf die Pariser Klimaschutzverhandlungen Einfluss hatte. Es gibt sogar mittlerweile Impact-Analysen, wo überall "Laudato si" in fachfremden, also nicht der Theologie nahen Wissenschaften zitiert wird. Es war sicher ein politischer Weckruf für Menschen guten Willens, auch die Enzyklika ernst zu nehmen. Ich finde, da muss man immer noch differenzieren.
DOMRADIO.DE: Wie ist das heute? Würde "Laudato si" heute noch den Zeitgeist treffen? Vor allem, wenn die Weltordnung eine neue zu sein scheint, so wie jetzt?
Schlögl-Flierl: Es gab ja schon ein neues Schreiben "Laudate deum". Hier sieht man schon die Tradition. 2023 wurde das Klima-Thema noch mal deutlicher verhandelt. Papst Franziskus hat also gedacht, er müsste nachfassen. Da sieht man schon, dass der Zeitgeist sich insofern verändert hat, dass das Klimathema sehr viel drängender geworden ist, ohne das Umweltthema nach hinten zu schieben.
Luisa Neubauer, die Fridays for Future-Aktivistin in Deutschland, hat zum Beispiel in den vatikanischen Gärten ganz positiv über "Laudate deum" gesprochen und hat gesagt, "Laudato si" und "Laudate deum", hätten ihr Hoffnung gegeben. Ich finde, das ist die Botschaft, die wir senden sollten.
DOMRADIO.DE: Gibt es Passagen oder Aussagen in "Laudato si", die Sie nach zehn Jahren als besonders visionär oder prophetisch bewerten würden?
Schlögl-Flierl: Bei mir ist es das Wasserthema. Ich beschäftigte mich ganz viel mit der Frage nach Wassergerechtigkeit. Beim nochmaligen Lesen von "Laudato si" ist mir aufgefallen, dass hier zum Beispiel das Menschenrecht auf Wasser schon ganz viel angelegt ist.
Damals, als man den Text das erste Mal gelesen hat, war man sehr auf die Frage nach Konsum konzentriert, auf die Frage nach Biodiversität, auf die Frage der Tugenden. Aber das Wasserthema war auch schon da und kann jetzt gehoben werden.
Das Interview führte Tobias Fricke.