DOMRADIO.DE: Sie leben in Ost-Jerusalem. Was bekommen Sie von dieser Großoffensive und ihren Folgen mit?
Msgr. Stephan Wahl (Priester und Autor aus dem Bistum Trier mit Lebensmittelpunkt in Ostjerusalem): Wir bekommen hier auch in erster Linie etwas durch die Medien mit. Wie sie in Deutschland - nur ein bisschen drastischer. Jüngst hat Israels unsäglicher und rechtsradikaler Finanzminister, Bezalel Smotrich, in einer Pressekonferenz unverhohlen davon gesprochen, dass sie alles, was in Gaza noch übrig ist, zerstören werden und dass die Welt sie davon nicht abhalten werde. Bisher habe ich den Begriff des Völkermords bewusst nicht benutzt, aber mit Blick auf die entsetzlichen Bilder und Nachrichten aus Gaza kann ich diesen fürchterlichen Gedanken nicht mehr verdrängen.
Mich zerreißt die Hilflosigkeit im Alltag immer mehr. Denn das Leben geht in Jerusalem quasi normal weiter. Ich komme vom Einkaufen, die Straßenbahn fährt draußen, aber in siebzig, achtzig Kilometern Luftlinie entfernt findet Horror pur statt. Das zerreißt einen. Zwischendurch gibt es mal einen Luftalarm, wenn eine Rakete aus dem Jemen unterwegs ist, aber daran gewöhnt man sich erschreckenderweise.
Sie müssen sich vorstellen, dass beispielsweise in Köln normaler Alltag ist, aber in Aachen seit Wochen und Monaten gelitten, gehungert und gestorben wird. Das ist einfach nur Wahnsinn.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet diese Großoffensive der israelischen Armee für die Menschen in Gaza?
Wahl: Es ist absolut unvorstellbar. Es heißt, dass die Menschen in den Süden "evakuiert" werden. Das bedeutet, dass sie vertrieben werden sollen. Denn von dort sollen sie in Drittländer abgeschoben werden.
Es geht Israel nicht mehr um die Befreiung der Geiseln und den Sieg über die militanten Zweige der Hamas, sondern es geht Israel um Eroberung, Besatzung, Vertreibung und Neuansiedlung. Es geht um Trumps völlig hirnrissigen Riviera-Traum. Das ist entsetzlich für die Menschen in Gaza.
DOMRADIO.DE: Wie hat sich die Situation der israelischen Geiseln und ihrer Familien entwickelt?
Wahl: Die Familien der Geiseln können nicht verzweifelter sein, als sie es eh schon sind. Sie mussten sich jetzt von Ihrem Ministerpräsidenten öffentlich sagen lassen, dass die Befreiung der Geiseln – also ihrer Angehörigen – nicht mehr das vorrangige Ziel des Krieges ist. Jetzt zittern Sie noch mehr um die Leben Ihrer Lieben.
Zum einen, weil Sie nicht wissen, wie die Terroristen auf den Angriff reagieren werden. Zum anderen, weil bei diesem Großangriff auch Geiseln unabsichtlich von Israel getötet werden können. Das wird nach dem Krieg noch ein bitteres Thema sein, wenn wir erfahren, wie viele Geiseln durch israelische Bomben umgekommen sind.
DOMRADIO.DE: Israel hat nach wie vor eine starke Zivilgesellschaft. Wie groß ist der Anteil derer, die den Krieg in Gaza so nicht mehr mittragen wollen?
Wahl: Das ist eine gute Frage. Netanjahu hat das Land durch seine Kriegsführung zermürbt. Auch den unverdrossenen Demonstranten, die seit Wochen und Monaten auf die Straße gehen, geht langsam die Luft aus. Aber mit Sicherheit kann ich sagen, dass die Mehrheit der Israelis für ein sofortiges Ende des Krieges ist, wenn es die einzige Möglichkeit ist, die restlichen Geiseln zu befreien. Das zeigen die Umfragen.
Das liegt aber nicht im Interesse von Netanjahu und seinen "rechtsradikalen Komplizen". Die brauchen den Krieg, um ihre Macht zu behalten. So grausam es klingt.
DOMRADIO.DE: Aus den Vereinigten Staaten unter Trump ist derzeit kein Impuls zur Befriedung zu erwarten. Was könnte den Konflikt lösen?
Wahl: Maximaler Druck der Welt, nichts anderes. Kanada, das Vereinigte Königreich und Frankreich haben jetzt mit ihrer gemeinsamen Erklärung endlich alle Diplomatie beiseite gelassen und reden Tacheles. In der Erklärung verurteilen die Staaten die "verabscheuungswürdigen Äußerungen", die von Mitgliedern der israelischen Regierung gemacht werden. Zum Beispiel die eben erwähnte Aussage zur Ankündigung der Zwangsbesiedelung von Finanzminister Smotrich.
In der Erklärung verurteilen die Staaten auch das Massaker vom 7. Oktober. Das müssen wir immer wieder deutlich und immer wieder neu sagen. Sie unterstreichen auch das Recht Israels, sich gegen Terrorismus zu wehren, aber sie sagen auch klar und deutlich, dass die jetzige Eskalation absolut unverhältnismäßig ist. Deswegen kündigen die Staaten auch Überlegungen über mögliche Konsequenzen für Israel an, wenn der Krieg nicht gestoppt wird.
Ich bin gespannt, ob das nur Worte sind oder ob es wirklich Konsequenzen gibt, denn Netanjahu wird sich von dieser Erklärung nicht beeindrucken lassen. Er schwingt wieder seine Antisemitismus-Keule, was ich für eine besonders perfide Art der Rechtfertigung halte. Wer die brutale, eiskalte und skrupellose Kriegsführung der israelischen Regierung kritisiert, beleidigt doch nicht das Judentum oder Jüdinnen und Juden in New York oder München. Dass das endlich mal auseinandergehalten wird - besonders in Deutschland – wäre wichtig.
Ich hoffe, dass die Erklärung der drei Länder Wirkung zeigt. Besonders, wenn sich andere Länder anschließen. Ich wünsche mir, dass Deutschland dies tun würde. Das wird wegen seiner besonderen Geschichte wahrscheinlich nicht passieren.
Gott sei Dank ist es der Fall, dass Deutschland und Israel eine besondere Freundschaft miteinander entwickelt haben. Aber dann gehört zu dieser Freundschaft auch dazu, dass der Freund Deutschland dem Freund Israel deutlich die Leviten liest, wenn er sich verrannt hat. Nicht, weil er ihm schaden will, sondern weil ihm der Freund am Herzen liegt.
Auf Freunde, die mir nach dem Mund reden oder lieber schweigen, als mir den Kopf zu waschen, wenn ich es verdient habe, pfeife ich.
DOMRADIO.DE: Wie gehen Sie als katholischer Seelsorger mit dieser Situation um? Können Sie etwas im Kleinen tun?
Wahl: Wenig. Als Priester kann ich beten, mitleiden und meine Meinung nicht verschweigen. Aber wir als Christen sind eine Minderheit im Land. Wir machen gerade einmal zwei Prozent der Bevölkerung aus, wenn nicht sogar weniger. Entsprechend ist der politische Einfluss gering.
Unser Bischof, Pierbattista Kardinal Pizzaballa, äußert sich Gott sei Dank unverdrossen und fordert ein Ende dieses Krieges. Ich hoffe, dass Israel bei steigendem Druck noch die Kurve kriegt. Ich liebe dieses Land und seine Menschen seit meinem Schüleraustausch in den 70er Jahren. Ich hoffe, dass das Land wieder zu seinen Werten zurückkehrt. Ich hoffe es trotz allem.
Das Interview führte Annika Weiler.