Evangelischer Kirchentag bietet erstmals Thementag zu Machtmissbrauch

"Kein verschämtes Randthema"

Beim diesjährigen Evangelischen Kirchentag in Hannover gibt es erstmals einen ganzen Thementag zu Machtmissbrauch in der Kirche. Die Generalsekretärin Kristin Jahn erklärt, mit welchen Formaten dieses Thema Aufmerksamkeit erhält.

Kristin Jahn / © Paul-Philipp Braun (epd)
Kristin Jahn / © Paul-Philipp Braun ( epd )

DOMRADIO.DE: Erstmals gibt es beim diesjährigen Evangelischen Kirchentag einen ganzen Thementag zu Machtmissbrauch in der Kirche. Wie ist es zu dieser Entscheidung gekommen?

Kristin Jahn (Generalsekretärin und der Vorstandsvorsitzende des Evangelischen Kirchentags): Die Wirklichkeit hat hier die Geschichte geschrieben. Es ist eine traurige Geschichte. Nach dem Kirchentag in Nürnberg 2023 haben wir uns im Programm verständigt, dass wir das Thema größer setzen werden. Wir haben immer mehr Fälle vor Augen. Gleichzeitig hat sich eine Kultur entwickelt, dass betroffene Personen hoffentlich eine andere Kirche erleben und mehr gehört werden. 

Die meisten Fälle werden jetzt erst bekannt. Die Menschen brauchen für sich selber Zeit, um zu sagen: Ich melde mich und suche für mich einen Weg, damit ich das in Sprache fassen, aufarbeiten und mich mit anderen vernetzen kann. Uns war sehr wichtig, dass wir mehr als ein Podium zu dem Thema anbieten und es auch in der Breite angehen. Ich bin glücklich, dass das hier in Hannover gelungen ist. 

Zusätzlich zu den Podien, wo wir dazu sprechen, haben wir Gottesdienste, die von den Betroffenen selbst mitentwickelt wurden, wo nicht die Freude oben drüber steht und über nichts hinweggepredigt wird, sondern die Klage stehen gelassen wurde. Das braucht Mut. Es braucht Mut, diesen Schmerz zu benennen. 

Außerdem haben wir Gesprächsformate bis hin in eine künstlerische Verarbeitung, zu der wir Formate geschenkt bekommen haben. Das hat den Mut derer vorausgesetzt, die betroffen sind und sagen: Ich arbeite hier gerne mit, bringe die Perspektive ein und frage mit anderen, wie wir das zum Thema machen können.

DOMRADIO.DE: Warum ist es wichtig ist, nicht nur die klassischen Gesprächsformate anzubieten?  

Jahn: Jede Person, die Machtmissbrauch erlebt hat, wird ihren eigenen Weg finden, damit umzugehen. Es gibt nicht nur den Weg eines Zuhörformats für Teilnehmende. Deshalb ist es wichtig, dass man das über Kunst und Kunstvermittlung, über eine andere Sprache, in der Welt sichtbar machen kann. 

Das ist mehr als das Schweigen in einem Gottesdienst oder als die Träne, die einem bleibt. Manchmal hilft dir Kunst oder manchmal hilft es auch, darüber zu schreiben. Da braucht es viele Formate und Formen. Ich bin dankbar, dass wir gemeinsam mit der Landeskirche Hannover, die den Kirchentag mitfinanziert, eine große Freiheit entwickeln konnten, zu sagen, dass wir da Ressourcen reinpacken und das in der Vielfalt ausprobieren werden.

Kristin Jahn

"Das ist mehr als das Schweigen in einem Gottesdienst oder als die Träne, die einem bleibt."

DOMRADIO.DE: Es gab einen Gottesdienst unter der Überschrift "Gott, wo warst du?" Wie war die Stimmung dort?  

Jahn: Mitarbeitende von mir waren dort und waren sehr berührt. Es war ein Gottesdienst, der nicht im fröhlichen Amen endet. Das war aber auch nicht geplant. Es war ein Gottesdienst, in dem viele Menschen geweint haben und mit Tränen in den Augen rausgegangen sind; ein Gottesdienst, in dem auch gerungen wurde. 

Sarah Vecera aus unserem Präsidium war auch dabei und hat gesagt, wie schwierig das für sie sei, eine gute Haltung zu entwickeln und sich nicht wegzuducken.

Wir brauchen einen Kulturwandel in unseren Kirchen, auch beim Kirchentag, damit es nicht das verschämte Randthema bleibt. Das wünsche ich mir für alle, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, dass es anders gehört wird. Es ist ein Schatten, der über dem Kirchentag und der Kirche liegt. Aber der Schatten gehört genauso dazu wie die Sonne.

Kristin Jahn

"Wir brauchen einen Kulturwandel in unseren Kirchen, auch beim Kirchentag, damit es nicht das verschämte Randthema bleibt."

DOMRADIO.DE: Es gibt auch eine Veranstaltung zu dem Thema Narzissmus in der Kirche. Warum ist das ein Problem?

Kristin Jahn / © Lara Burghardt (DR)
Kristin Jahn / © Lara Burghardt ( DR )

Jahn: Ich sage es mal relativ banal: Viele verwechseln sich mit Jesus. Auch die Kirche ist nicht frei davon, Gestalten großzumachen, die sehr gut von sich selbst erzählen, überzeugt sind und das mit einem Sendungsbewusstsein vermischen. Das ist eine Gefahr, die in diesem Beruf per se steckt. Das trifft für evangelische und katholische Kirche zu, teilweise auch im ehrenamtlichen Leitungsjob. Wir Menschen sind alle nicht frei davon. 

Wir haben in der Kirche keine gute Kultur, einander darauf hinzuweisen, weil es dann sofort als Neid am Erfolg ausgelegt wird. Kirche ist immer in der Gefahr, narzisstisch zu enden. Sich selbst mit Christus zu verwechseln, ist der erste Brückenpfeiler dafür.

DOMRADIO.DE: Sie haben dem Evangelischen Pressedienst gegenüber folgendes Zitat gesagt: "Wie können wir denn noch fröhlich an einen Gott glauben, wenn Menschen genau diese Rede von Gott ausgenutzt haben, um in ihren eigenen Gelüsten zu folgen und andere zum Objekt zu machen?" Haben Sie mittlerweile eine Antwort darauf gefunden?

Kristin Jahn

"Wenn jemand das Gloria nicht mitsingen und sprechen und beten kann, müssen wir das akzeptieren."

Jahn: Die Antwort war heute in dem Gottesdienst, der ein Klage-Gottesdienst geblieben ist. Ich glaube, wir müssen das aushalten. Das macht unsere Gottesdienstkultur so groß, dass sie das Kyrie genauso beinhaltet hat wie das Gloria. Wenn jemand das Gloria nicht mitsingen und sprechen und beten kann, müssen wir das akzeptieren. Deshalb brauchen wir vielleicht auch eine Vielfalt von Gottesdienen, bei denen wir sagen, dass die Klage im Vordergrund steht.

Das Interview führte Lara Burghardt.

Kirchentag

Alle zwei Jahre zieht der Kirchentag eine Stadt fünf Tage lang in seinen Bann. Über 100.000 Menschen jeden Alters, unterschiedlicher Religionen und Herkunft kommen zusammen, um ein Fest des Glaubens zu feiern und über die Fragen der Zeit nachzudenken und zu diskutieren.

Rückblick 2019: Deutscher Evangelischer Kirchentag - Segen zur Nacht / © Bernd Thissen (dpa)
Rückblick 2019: Deutscher Evangelischer Kirchentag - Segen zur Nacht / © Bernd Thissen ( dpa )
Quelle:
DR

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