Experte erklärt Wege aus dem Fanatismus

"Kritisches Denken ist Immunisierung gegen Extremismus"

Religiöser Terror beherrscht seit dem Angriff auf Israel wieder die Schlagzeilen. Extremismus kommt auch in Deutschland vor. Wie radikalisieren sich Gläubige? Was sind die Mechanismen und wie kann man Menschen daraus befreien?

Wenn Religion nicht zu Frieden, sondern zu Gewalt führt. / © Anriv Anriyenko (dpa)
Wenn Religion nicht zu Frieden, sondern zu Gewalt führt. / © Anriv Anriyenko ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie geraten Menschen in den religiösen Extremismus wie zum Beispiel dem Salafismus?

Florian Endres leitet das Referat „Beratungsstelle Radikalisierung, Prävention“ im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg und sowie stellvertretend die Referatsgruppe "Sicherheit". / © Pressestelle Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Florian Endres leitet das Referat „Beratungsstelle Radikalisierung, Prävention“ im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg und sowie stellvertretend die Referatsgruppe "Sicherheit". / © Pressestelle Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

Florian Endres (Referatsleiter "Beratungsstelle Radikalisierung, Prävention" im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge): Es gibt keine mustergültigen Biographien, aber wir wissen, dass die Personen häufig einen Schicksalsschlag erlitten haben. Einen Bruch in einer Beziehung, die Trennung der Eltern, der Verlust eines Angehörigen. Sie haben Probleme, für die sie keine Lösungsstrategie haben, weshalb sie nach Alternativen suchen.

Durch einfache Lösungsansätze und die Struktur, die die islamistische oder salafistische Szene vorgibt, finden sie schnell Halt. Daraufhin identifizieren sie sich sehr stark mit dieser neu erlebten Spiritualität, oder diesem neugefundenen Glauben und entwickeln darüber ein neues Selbstwertgefühl.

DOMRADIO.DE: Gibt es auch konkrete Situationen an denen Sie das festmachen können?

Florian Endres

"Im Salafismus gibt es eine Art "System", nach dem Gläubige Punkte sammeln können, die ihnen den Eintritt ins Paradies gewähren sollen."

Endres: Häufig arbeiten sich die Betroffenen sehr stark in diese Thematik ein. Im Salafismus gibt es eine Art "System", nach dem Gläubige Punkte sammeln können, die ihnen den Eintritt ins Paradies gewähren sollen. Von Freunden, Angehörigen oder Lehrern hören wir immer, wie sehr die Personen sich darum z.B. bemühen die Gebetszeiten streng einzuhalten, sich entsprechend zu kleiden, permanent rituelle Waschungen durchzuführen, oder dass sie das sog. Biswak benutzen, ein kleines Hölzchen um sich die Zähne zu putzen – nur um nicht in der Hölle zu landen. Häufig verändern sich ihre Social-Media-Auftritte und sie schauen sich etwa auf YouTube Videos von einschlägigen Predigern an.

DOMRADIO.DE: Gibt es besonders gefährdete Personengruppen?

Endres: Eine Radikalisierung kann bei allen möglichen Personen passieren. Bei Jugendlichen, die im scheinbar perfekten Akademikerhaushalt aufwachsen, genauso wie bei älteren Personen; bei Geflüchteten, die sich schwertun anzukommen, Diskriminierungserfahrungen gemacht haben und dann in dieser Szene von 'Glaubensbrüdern' Halt finden.

Es ist eine Frage des Angebots in einer schwierigen Zeit. Es ist auch eine Frage, inwieweit dieses Angebot greifbar ist, über das Internet, über Social Media oder über reale Kontakte, die deutlich wichtiger sind als das Internet. Häufig werden die Betroffenen von Mitschülern oder Bekannten angesprochen und bekommen darüber Kontakt mit der islamistischen Ideologie, oder einschlägigen Moscheen, wo sie relativ schnell in diese Szene eintauchen können.

DOMRADIO.DE: Haben die Angriffe auf Israel Ihre Arbeit verändert?

Endres: Wir können die politische Stimmung immer sehr gut nachzeichnen, weil wir in solchen Ausnahmesituationen viele Beratungsanfragen bekommen, nach den Angriffen auf Israel, der Ermordung des Lehrers in Frankreich, vor ein paar Jahren nach dem Angriff auf Charlie Hebdo.

Florian Endres

"Unsere Hauptaufgabe in diesem Kontext ist im Augenblick Schulen zu beraten."

Aktuell beobachten wir in den Social-Media-Kanälen der Islamisten, wie sie die Angriffe auf Israel jetzt aufgreifen. Unsere Hauptaufgabe in diesem Kontext ist im Augenblick Schulen zu beraten, die wissen möchten, wie sie mit diesem Gedankengut und den Diskussionen umgehen können.

DOMRADIO.DE: Ist der Islam besonders geeignet, um radikale Einstellungen in den Köpfen zu implementieren?

Endres: Das lässt sich aus unserer Sicht nicht sagen, so wie die Frage, inwieweit die Religion ein Faktor ist, über den man ins Extremistische abgleitet. In Deutschland haben die allerwenigsten aus der extremistischen Szene ein großes theologisches Interesse am Islam, oder daran die Gelehrten des Salafismus zu studieren. Die gibt es, aber das sind wenige. Das Interessante ist, das der Islamismus genutzt wird, um Personen mit religiösen Facetten und Versatzstücken zu ködern.

Aber die Schieflagen, warum sich diese Personen in diesem Bereich bewegen, werden nicht unbedingt darin begründet, dass sie sich den Islam als Religion aussuchen. Es ist die Frage der Attraktivität, der Ansprechbarkeit und des Zufalls. Die Biografien von Rechtsextremisten, Islamisten oder Linksextremisten gleichen sich häufig. Die sind schon fast austauschbar. Es ist nur die Frage welches Angebot näher an die Personen herankommt.

Anhänger jubeln dem salafistischen Prediger Pierre Vogel  (dpa)
Anhänger jubeln dem salafistischen Prediger Pierre Vogel / ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie versuchen Sie, die Leute aus dem Extremismus herauszuholen?

Endres: Erstmal muss man die Frage stellen, warum sich die Person eigentlich in diese Szene begeben hat. Ob sie beispielsweise eine Ausbildung abgebrochen hat, ausgezogen ist, neue arabische Freunde kennengelernt hat und dann plötzlich angefangen hat sich für den Islam zu interessieren und Videos von Islampredigern wie Pierre Vogel schaut, zeigt und teilt? Ob sich der Social Media Account gewandelt hat, vom Party-Typen zum strenggläubigen Muslim, der nur noch Koransuren rezipiert? Das erfahren wir meistens schon in den ersten Gesprächen, insbesondere dann, wenn enge Familienmitglieder bei uns Rat suchen. Der Weg in die Radikalität ist entscheidend für unsere Arbeit. Über ihn finden wir Ansätze mit der Person umzugehen.

Im nächsten Schritt versuchen wir eine Lageanalyse vorzunehmen. Dafür gehen unsere Partner vor Ort in die Familien und schauen sich die Risikofaktoren an. Sie prüfen, was man ad hoc tun kann, um die Situation zu beruhigen und wie man einen Draht zu der Person aufbauen kann.

Pierre Vogel (epd)
Pierre Vogel / ( epd )

DOMRADIO.DE: Weil der in der Regel schon nicht mehr vorhanden ist?

Endres: Häufig entsteht mit einer Hinwendung zum Salafismus oder in den islamistischen Bereich auch eine wahnsinnige Konfliktsituation innerhalb der Familie. Selbst dann, wenn die Familie selbst muslimisch ist. Dann werten die Betroffenen ihr altes soziales Umfeld und ihre Verwandten als Ungläubige ab und es gibt viel Krach.

DOMRADIO.DE: Wie gehen Sie in solchen Fällen vor?

Endres: Zunächst werden ganz klassische Stabilisierungsmaßnahmen, sozialpädagogische, psychologische Familiencoachings eingeleitet, um diese Leute zunächst mal a) in die Lage zu versetzen, die Situation zu verstehen und b) auf diese Person einzuwirken und empfänglich dafür zu machen, mit einem Berater zu sprechen, der mit ihr darüber spricht, was sie eigentlich bewegt, was die Umstände seines Wesenswechsels sind. Dann versucht man die Leute Schritt für Schritt ansprechbar zu machen für Angebote, um sie aus der Szene rausholen.

DOMRADIO.DE: Wie empfänglich sind die Leute, die tief in dieser Szene drin sind, für solche Angebote?

Endres: Bei ganz vielen Syrien-Rückkehrerinnen und Rückkehrern haben wir beispielsweise beobachtet, dass die Personen immer wieder Phasen des Zweifels hatten. Auch wenn der Islamische Staat erst noch das Nonplusultra im Leben war, kamen sie in solchen Momenten an den Punkt, an dem sie sich gefragt haben, ob alles richtig ist, was dort so passiert. An solche Phasen knüpft auch die Deradikalisierung an. Auch Personen, die nicht im gewaltbereiten Spektrum unterwegs sind, zweifeln immer wieder und fragen sich, ob das eigentlich richtig ist, was getan oder gepredigt wird.

DOMRADIO.DE: Zweifel ist ein Aspekt, der zu jedem Glauben dazu gehört.

Endres: Kritisches Denken ist ganz wichtig. Das ist auch immer ein Aspekt, der in den Beratungen aufkommt. Wie gut kenne ich mich eigentlich mit der Religion aus? Was weiß ich über sie? Welche Stellungnahmen, Bibelstellen oder Koransuren, kann ich deuten?

Egal wie eine Person religiös sozialisiert ist, je besser sie kritisches Denken in ihrer Persönlichkeit implementiert hat, desto schwieriger ist es für Extremisten die Person zu rekrutieren. Jemand, der sich mit dem Islam gut auskennt, wird relativ schnell erkennen, dass der salafistische Islam vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Vielleicht ist eine andere Auslegung des Islams für die Person doch besser geeignet. Kritisches Denken ist eine Art Immunisierung gegen Extremismus.

DOMRADIO.DE: Die religiös motivierten Terroristen, die im Krieg kämpfen, machen das auch aus der Überzeugung des Dschihad heraus. Sie legitimieren ihre kriegerischen Handlungen mit Gottes Willen und haben die Überzeugung, dass sie als Märtyrer in den Himmel kommen, wo 72 Jungfrauen auf sie warten, wenn sie sich einem Himmelfahrtskommando aussetzen.

Florian Endres

"Das ganze Leben dieser Personen ist dahingehend ausgerichtet, im Diesseits so viele Pluspunkte wie möglich zu sammeln, um im Jenseits ins Paradies zu kommen."

Endres: Das ist ein Punkt, der im Salafismus per se eine zentrale Rolle spielt. Die Orientierung ins Jenseits ist extrem ausgeprägt. Das ganze Leben dieser Personen ist dahingehend ausgerichtet, im Diesseits so viele Pluspunkte wie möglich zu sammeln, um im Jenseits ins Paradies zu kommen. Die salafistische Ideologie sagt, dass lediglich diejenigen Personen den Weg ins Paradies finden, die sich deren Islam-Interpretation anschließen. Alle anderen landen in der Hölle.

In der gewaltbereiten jihadistischen Szene ist der sogenannte "kleine Dschihad" notwendig, um die Religion zu verteidigen und gegen Ungläubige vorzugehen. Wenn eine Person aus dem mitteleuropäischen Raum bereit ist selbst Gewalt anzuwenden, ist das natürlich ein weiterer Schritt, der von zusätzlichen Faktoren beeinflusst wird, wie beispielsweise ein großes Interesse an Waffen. Ideologische Facetten spielen auch häufig eine Rolle, wie dass sie sich als Teil der absoluten muslimischen Elite sehen, die ein Kalifat errichtet.

DOMRADIO.DE: Wenn Angehörigen auffällt, dass sich Betroffene radikalisieren. Was empfehlen Sie Ihnen?

Endres: Wichtig ist Kontakt zu halten und sich offen zu zeigen. Das ist für Angehörige immer schwer. Auch für Lehrer ist das problematisch, wenn die Schüler sehr provokant auftreten und sich nicht maßregeln lassen.

Das Wichtigste ist, das Gesprächsband nicht zu verlieren und viele offene Fragen zu stellen. Wo ist diese Person jetzt anzusiedeln? Wo ist sie unterwegs? Für viele ist der religiöse Extremismus ein Ausweg um wahrgenommen zu werden, weil sie wer sein wollen, und weil sie wollen, dass jemand mit ihnen spricht. Man sollte Interesse zeigen und fragen: Was schaust du dir da eigentlich an? Was liest du? Wem folgst du da auf Instagram? Erklär mir das doch mal. Dann fühlen die sich häufig stark aufgewertet und dann sind sie auch bereit zu erzählen. Das ist der erste wichtige Punkt für eine Intervention.

Das Interview führte Clemens Sarholz.

Quelle:
DR