BWV 55

Sonntag Oculi

Immer noch schweigt die Musik in den Leipziger Kirchen. Denn wir sind immer noch mitten drin in der Fastenzeit. Und für diese Sonntage genauso wie für die Sonntage der Adventszeit musste Johann Sebastian Bach keine Kantaten komponieren. Dem Charakter dieser Sonntage entsprechend. Dennoch hat Bach zahlreiche Kantaten komponiert, die ganz stark eine thematische Verbindung zur Fastenzeit besitzen. So zum Beispiel die Kantate „ich armer Mensch, ich Sündenknecht“, BWV 55.

 (DR)

Das ganze Werk ist bis auf den chorischen Schlusssatz dem Tenor zugewiesen. Komponiert hat Bach diese Kantate für den 17. November 1726. Der Textdichter, von dem wir nicht wissen, um wen es sich handelt, knüpft an das Evangelium vom unbarmherzigen Gläubiger an. Sie kennen das Gleichnis: Ein König hat Mitleid mit einem seiner Diener. Obwohl er ihm die 10.000 Talente nicht zurückzahlen kann, wirft er ihn doch nicht ins Gefängnis, sondern lässt ihn gehen und schenkt ihm die Schuld. Doch statt genauso mit seinem Diener umzugehen, der ihm nur einhundert Dinare schuldet, zeigt er sich hart und wirft diesen wegen dieser kleinen Schuld ins Gefängnis. Als dass der König hört, ist er sehr zornig mit seinem Diener, bereut, dass er ihm die Schuld erlassen hat und überlässt ihn aus Zorn über dessen Unbarmherzigkeit den Folterknechten. So heißt es im ersten Satz der Kantate: „Er ist gerecht, ich ungerecht“. Die Barmherzigkeit Gottes und die Hartherzigkeit des Menschen wird hier deutlich gegenüber gestellt.  

Auch die Gesamtgliederung der Kantante ist von diesem  Gegensatz geprägt: je zwei Sätze handeln von der Sündhaftigkeit des Menschen,  je zwei Sätze vom Erbarmen Gottes.

Im Satz 2 greift der Dichter zur Schilderung der Allgegenwart Gottes auf Bilder des 139. Psalms zurück. Da heißt es: „Wohin könnte ich fliehen vor deinem Geist, wohin mich vor deinem Angesicht flüchten? Nehme ich die Flügel des Morgenrots und lasse mich nieder am äußeren Meer, auch dort wird deine Hand mich ergreifen und deine Rechte mich fassen.“

Satz 3 und 4, Arie und Rezitativ, beginnen jeweils mit demselben Ausruf: „Erbarme dich!“ Diese Worte weisen voraus auf die textverwandten Sätze der nicht allzu lange danach entstandenen Matthäuspassion. Ebenso der letzte Satz, die 6. Strophe des Liedes „Werde munter, mein Gemüte“ von Johann Rist. Einem Textdichter des 17. Jahrhunderts.

Bachs Komposition bevorzugt in auffälliger Weise die Holzbläser. Die ganze Komposition erweckt durch einen sehr dichten Satz, d.h. durch sehr eng beieinander liegende Stimmen und Tonhöhen den Eindruck des sich windenden Sünders, der sich vergeblich gegen seine Sündenlast aufbäumt, ohne von ihr loszukommen. Schon im ersten Satz wird dies besonders bei der Vertonung von „Ich Sündenknecht“ deutlich:

Erst ab dem vierten Satz ändert sich die Grundstimmung. Auf einmal kommt durch die gehaltenen Streicherakkorde Ruhe in die Komposition. Die Ruhe, die der Sünder im Gedenken an Christi Leiden findet, soll hörbar werden.

Denselben Trost strahlt auch der vierstimmige Schlusschoral aus, dessen Satz im Ausdruck gemäßigter ist als die Vertonung derselben Strophe in der Matthäus-Passion.

BWV 55: „Ich armer Mensch, ich Sündenknecht.“
Kurt Equiluz, Tenor, Knabenchor Hannover, Leonhardt-Consort,
Leitung: Gustav Leonhardt
 
Quelle: Alfred Dürr: Die Kantaten Johann Sebastian Bachs. Bärenreiter, 1995