Drei Kinder streiten darum, wem eine Flöte zusteht: Das erste kann sie aufgrund seiner Fähigkeiten am besten nutzen, das zweite verfügt über kein anderes Spielzeug, und das dritte hat die Flöte selber hergestellt. Mit dieser Geschichte regt der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie von 1998, zum Nachdenken über Gerechtigkeit an. Für jede der drei Lösungen gibt es gewichtige Argumente. Ein Ideal von Gerechtigkeit hilft nicht weiter. Für Sen ist es wichtiger, durch öffentlichen Vernunftgebrauch in einem demokratischen Prozess eine Einigung zu erzielen.
Das ist Sens großes Thema: Wie lässt sich soziale Gerechtigkeit für das Individuum in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang verwirklichen? Der in den USA lebende Wissenschaftler verbindet dabei Fragen der Ökonomie mit denen der Moralphilosophie. Sen ist überzeugt, dass gesellschaftlicher Wohlstand nicht allein am Wirtschaftswachstum zu messen sei, sondern immer auch an den Entwicklungsmöglichkeiten für die Schwächsten. Der Index der menschlichen Entwicklung, den die Vereinten Nationen seit 1990 herausgeben, geht maßgeblich auf ihn zurück. Ein weiterer Index, mit dem sich Ungleichheit messen lässt, trägt seinen Namen. Sen schlug vor, Armut und Wohlergehen nicht anhand von Einkommen, Ressourcen, Nutzen oder Glück zu betrachten, sondern anhand der "Funktionen" und "Fähigkeiten" der Menschen. Ziel der Entwicklung sollte seiner Ansicht nach die Erweiterung menschlicher Fähigkeiten und nicht wirtschaftliches Wachstum sein.
Persönliche Erlebnisse haben das Denken des Wirtschaftswissenschaftlers geprägt. Geboren am 3. November 1933 in Shantiniketan in Westbengalen, erlebte er die Unabhängigkeitsbewegungen in Indien während der 1940er Jahre und die
Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems sowie die große Hungersnot in Bengalen 1943 mit. Die Hungersnot lehrte Sen, dass Hungersnöte nicht nur auf katastrophale Versorgungsdefizite zurückzuführen sind, sondern auch
durch gesellschaftliche und politische Bedingungen hervorgerufen werden. Freiheitliche Strukturen, darunter Informations-, Meinungs- und Redefreiheit, können Armut und Not verringern. Sen zeigt sich überzeugt, dass Hungersnöte in Demokratien seltener vorkommen als in Diktaturen.
Demokratische Gesellschaften sind für Sen, der in Harvard studierte, deshalb eine Grundbedingung für Gerechtigkeit. Dabei betont der Wirtschaftswissenschaftler, dass es nicht nur im Westen partizipatorische Regierungsformen gegeben hat und dass sie fast überall auf der Welt eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben.