Tierethik stößt auf immer breiteres Interesse

Aufwind für eine noch junge Disziplin

Ein männliches Küken (dpa)
Ein männliches Küken / ( dpa )

 

Schon auf der ersten Seite zieht sich beim Lesen der Magen zusammen: Die französische Philosophin Corine Pelluchon listet in ihrem "Manifest für die Tiere" auf, wo Tiere nicht artgerecht behandelt, gequält und getötet werden. Von Tierversuchen über überfüllte Tierheime bis zu Schlachthäusern: "Überall dort herrschen Unglück und Ungerechtigkeit." So wie die Menschheit Tiere behandle, drohe sie ihre eigene Seele zu verlieren, schreibt Pelluchon.

Die Sensibilität für das Thema wächst – in der Bevölkerung und in der Wissenschaft. Ein Grundlagenwerk der Tierethik ist bis heute das Buch "Die Befreiung der Tiere" (1975) von Peter Singer. Seine Kernthese: Das persönliche Interesse ist per se nicht mehr wert als das Interesse eines anderen Menschen oder auch eines Tieres. Die Idee, dass der Mensch dem Tier überlegen sei, entspringe einer falschen christlichen Annahme, wonach der Mensch die "Krönung der Schöpfung" sei, so Singer. Normen und Werte sollten sich deswegen auch nicht auf kirchliche Dogmen stützen. Der Vorreiter für Tierrechte gilt zugleich als Abtreibungsbefürworter; Behindertenverbände und Kirchenvertreter halten seine Thesen für menschenverachtend und gefährlich.

Doch seine mehrfach preisgekrönte Haltung zu Tierrechten wird weitergedacht. Auch in der Theologie gibt es Bewegung. So verweist die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in einer aktuellen Denkschrift darauf, dass laut biblischer Schöpfungserzählung die menschlichen Verfügungsrechte beim Leben der Tiere enden. Die katholische Theologin Simone Horstmann hofft, dass sich die Haltung der Kirche zu Tieren verändern wird. Es handle sich um eine Zukunftsfrage. Ein Großteil dessen, was Tiere erleiden müssten, sei nicht mehr notwendig, betonte Horstmann im Hinblick etwa auf Tierversuche. Und weiter: "Es muss Aufgabe der Theologie sein, hellhörig zu werden, wenn Gewalt und Tod zur Notwendigkeit verklärt werden, egal, um welche Lebewesen es sich handelt."

Ähnlich sieht es der Theologe Rainer Hagencord. Auf die Institution Kirche setzt er jedoch wenig Hoffnung. Eine Theologie, "die die Natur über Jahrhunderte als hübsche Kulisse oder als Ressourcenlager gesehen hat und die Tiere weiterhin zu seelenlosen Automaten degradiert", sieht er als mitverantwortlich für die ökologische Katastrophe. Auch Horstmann kritisiert die traditionelle Theologie, in deren Vorstellung vom Himmel die Tiere keinen Platz haben. "Es möchte doch niemand in den Himmel kommen, wenn befreundete Tiere dort nicht auf uns warten."

Die Theologin wirbt für ein Umdenken. So könne man sich fragen: "Spricht denn etwas dafür, Kühe permanent schwanger zu halten und ihnen die Kinder wegzunehmen, die dann für ein paar Euro wie Abfallprodukte verscherbelt werden?" Die Welt der "sogenannten Nutztiere" sei "ein permanenter Albtraum, ein Leben, das fast nur aus Angst, Dunkelheit, Deprivation und Qual besteht. Das kann durch keinen Latte-macchiato-Genuss gerechtfertigt werden."

Horstmann beobachtet, dass "ein gewisses Befremden" gegenüber der Tiertheologie nachlasse. Hagencord freut sich nach eigenen Worten über diese Entwicklung. Er sagt aber auch: "Das ist viel zu spät." Die Kirche habe es versäumt, das Thema Ökologie in den Mittelpunkt zu rücken. "Wenn wir uns die Gottes- und Sinnfrage stellen, müssen wir die Tiere und die Umwelt in den Blick nehmen, statt ihnen den Rücken zuzukehren. Die aktuelle Ausrottungswelle ist in ihren Ausmaßen so groß wie beim Aussterben der Dinosaurier", mahnt Hagencord.

Daher müssten junge Menschen, die zunehmend in der digitalen Welt zu Hause seien, auch die natürliche Umwelt kennenlernen, fordert der Theologe. Dass die Natur die "eigentliche Heimat" des Menschen sei, hätten viele offenbar vergessen. Die Corona-Pandemie könnte, hofft Hagencord, zu einem Umdenken beitragen: "Wir sollten dieses unsägliche Ereignis nutzen, um zu retten, was noch zu retten ist." (KNA)