Gedenkrede zur Erinnerung an den 85. Jahrestag der Pogromnacht

Kerzen vor der Kölner Synagoge nach einem Schweigegang zum Gedenken an die Pogromnacht vor 85 Jahren / © Rolf Vennenbernd (dpa)
Kerzen vor der Kölner Synagoge nach einem Schweigegang zum Gedenken an die Pogromnacht vor 85 Jahren / © Rolf Vennenbernd ( dpa )

Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger, Stadtdechant Msgr. Robert Kleine
9. November 2023, 17.30 Uhr, Synagoge Roonstraße, Köln

- ES GILT DAS GESPROCHENE WORT -

Sehr geehrter Vorstand der Synagogengemeinde, sehr geehrter/lieber Herr Rabbiner Brukner, sehr geehrter/lieber Herr Minister Liminski, sehr geehrte/lieber Frau Oberbürgermeisterin Reker, sehr geehrte/liebe Gedenkgemeinde,

der Anlass für unser heutiges Zusammenkommen ist das Gedenken an den 9. November 1938 in der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte. Heute sind wir nach 85 Jahren hier, um uns an die damaligen furchtbaren Ereignisse zu erinnern:

Zur Mahnung und zu Erinnerung. Aktuell gibt es mehr Anlass zur Mahnung denn je. Wir alle stehen unter dem Eindruck des schrecklichen und menschenverachtenden Terrorangriffs der Hamas auf Israel am Schabbat des 7. Oktober. Wir sind tief erschüttert über die barbarische Gewalt. Wir teilen die entsetzliche Sorge um das Schicksal der von den Terroristen Entführten. Wir teilen die Angst der Jüdinnen und Juden in Israel um ihre Sicherheit. Und wir teilen die Sorge der jüdischen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und auch unserer Stadt vor einer weiteren Aus-
breitung und Entfesselung des Antisemitismus auch in unserem Land, auch in unserer Stadt. Der Antisemitismus war nie besiegt und weg, sondern er war immer latent da und tritt nun erschreckend offen zutage, vor allem in den Demonstrationen in deutschen Städten: Sowohl der israelbezogene Antisemitismus, als auch der Antisemitismus gegen jüdisches Leben hier. Das ist mehr als alarmierend.

Hier sind eine klare Haltung und konsequentes Handeln gefragt. Hetze gegen jüdische Menschen ist unerträglich und darf in unserem Land nicht geduldet werden, von niemandem und in keiner Form! Der jüdische Pianist Igor Levit hat kürzlich geschrieben: „In einer aufgeklärten, freien, sich ihrer Werte und humanistischen Grundlagen bewussten Welt, sollten es auch nicht vor allem die Juden sein, die den Antisemistimus bekämpfen (Müssen).“

Es ist eine Ehre, dass Sie uns, Stadtdechant Kleine und mich, gebeten haben, heute zu diesem Anlass zu sprechen, übrigens bevor die Terrororganisation Hamas Israel vor einem Monat überfallen hat. Wenn wir hier heute stehen und reden und mit Ihnen das Klagelied über die Vernichtung jüdischen Lebens in der Zeit des Nationalsozialismus teilen, wenn wir in Ehrfurcht schweigen, dann tun wir das voller Demut.

Wir tun es im Wissen darum, dass die Kirchen über Jahrhunderte gegenüber den Menschen jüdischen Glaubens unermessliche Schuld auf sich geladen haben und mitverantwortlich sind für den jahrhundertelangen Antisemitismus und die Vertreibung und die Vernichtung von Juden. Sie haben uns heute als christliche Theologen eingeladen. Und daher sei es klar gesagt: Es ist eine Tatsache, dass in der evangelischen und katholischen Theologie der jüdische Glaube über Jahrhunderte nicht geachtet, sondern bekämpft wurde. Wir wissen um die antijüdischen Schriften Martin Luthers, von denen wir uns heute entschlossen distanzieren, von den Schmähbildern in Wittenberg und anderswo. Unsere christlichen Vorfahren haben 1933, 1938 und während des systematischen Holocausts bis 1945 weitgehend geschwiegen. Sie sind dem Rad nicht in die Speichen gefallen.

Als einer der ganz wenigen hat der Theologe Dietrich Bonhoeffer seine Schüler 1938 gelehrt: "Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen." Wir haben hoffentlich in der Theologie und in der Verkündigung sehr gründlich gelernt und stehen heute unmissverständlich an Ihrer Seite. Die Evangelischen Kirche im Rheinland hat 1980 den Rheinischen Synodalbeschluss gefasst. In ihm wird - abgrenzend von jahrhundertelanger anderslautender Theologie - gesagt: "Die Kirche bezeugt die bleibende Erwählung des Gottesvolkes Israel." Das ist nicht nur ein Beitrag zum Gedankenaustausch, sondern eine verbindliche Feststellung, was in unserer Kirche gelten soll. Noch einmal Bonhoeffer. Er schrieb im November 1938: Lasst euch von der Heiligen Schrift sagen: "Wer euch, das Volk Israel, antastet, der tastet seinen Augapfel an."

Auch in und an unserem Kölner Dom finden sich antijüdische Artefakte aus den unterschiedlichen Jahrhunderten: Vom 12. und 13. Jahrhundert über das ausgehende 19. Jahrhundert bis -besonders erschreckend- noch in die Nachkriegszeit. Seit geraumer Zeit wird der sich hier in unserem bekanntesten Kölner Gotteshaus zeigende Antisemitismus und Antijudaismus theologisch und historisch aufgearbeitet. Und in naher Zukunft wird ein neues Kunstwerk des 21. Jahrhunderts das katholischerseits spätestens seit dem 2. Vatikanischen Konzils eindeutig und klar positiv definierte Verhältnis zum Judentum verdeutlichen.

Papst Johannes Paul II. hat als erster Papst eine Synagoge, die in Rom besucht und die Jüdinnen und Juden als "unsere älteren Geschwister angesprochen." Und Papst Franziskus betonte am vergangenen Montag, der Dialog zwischen Judentum und Christentum sei kein interreligiöser, sondern vielmehr ein familiärer. "Jesus wurde als Jude geboren und hat als solcher gelebt; er selbst ist der erste Garant für das jüdische Erbe innerhalb des Christentums".
Christen bräuchten das Judentum, um sich selbst besser zu verstehen. Beide religiösen Traditionen seien eng miteinander verbunden.

Es heißt seit Jahrzehnten und heute sehr konkret von allen verantwortlichen Politikern: "Das Existenzrecht Israels ist deutsche Staatsräson“, und daraus werden Konsequenzen gezogen. Ebenso muss es von den Kirchen klar und deutlich heißen: "Die christlichen Kirchen können nicht existieren, ohne klar an der Seite des Volkes Israel zu stehen
und ohne ihre jüdischen Wurzeln zu achten!" Und auch daraus sind Konsequenzen zu ziehen.

Was können wir heute tun, um an Ihrer Seite zu stehen?

Es sind klare Worte der Solidarität.

Es ist die Teilnahme an Kundgebungen wie am Sonntag zur Solidarität mit Israel oder die Initiierung und Organisation des gestrigen Schweigegangs.

Es sind weitere Schritte der Bildungsarbeit der Kirchen und Schulen, wie wir das heute hier wieder ermutigend erleben. Es sind die Begegnungen, es sind Bildungsreisen nach Israel mit Jugendgruppen, die hoffentlich bald wieder möglich werden.

Es sind Fahrten mit Jugendlichen zu Gedenkstätten wie Auschwitz und Buchenwald; es sind Appelle, sich von allen Demonstrationen mit judenfeindlichem Inhalt zu distanzieren.

Es ist das Melden von Hass und antisemitischer Hetze in den sogenannten Sozialen Medien.

Es sind gegenseitige Kontaktaufnahmen, Besuche und Begegnungen.

Es ist ermutigend, dass die politischen Stellungnahmen in Bund, Land und Stadt klar sind und der Einsatz der Polizei Juden in Deutschland schützt. Es ist richtig, das Strafrecht gegen Judenfeindlichkeit einzusetzen.

Es ist unser Gebet.

Aber vielleicht muss es noch tiefer gehen. Wir merken bei aller Entschlossenheit: Wir Menschen können im Letzten Sicherheit und Frieden nicht selber schaffen. Wir können nur, wie Paulus schreibt: "Wenn es möglich ist, und so viel an uns liegt, mit allen Menschen Frieden halten." (Römer 12,18). Deswegen gilt es tiefer zu fragen: Was kann die Grundlage sein, ethisch verantwortlich zu handeln? Die Angst vor der Konvention oder Strafe ist es letztlich nicht.

Nur wer innerlich frei ist, wer einen inneren Kompass hat, kann moralisch handeln. Andere können nur Vorschriften befolgen. Im Zentrum des jüdischen und christlichen Glaubens steht das 1. Gebot. Wir haben es auf den bei-
den Tafeln des Gesetzes sichtbar und groß hinter uns vor Augen: 2. Mose 20, Vers 2 und 3: "Ich bin der Herr dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir."
Gott hat sein Volk befreit! Das Gebot und Bekenntnis Israels öffnet ein Koordinatensystem. Weil Gott an erster Stelle steht und ihm die Ehre gebührt, ist unser Platz als Menschen bestimmt. Die Glaubenden sind in der Bindung
an Gott frei, zu dienen und alle Kinder Gottes zu achten. Das 1. Gebot stellt uns die Frage: Wo ist dein Herz? Ist es bei einer Nation? Bei irgendeiner Ideologie? Beim eigenen Vorteil? Oder ist es bei Gott, dem Herrn? Wenn unser Herz bei ihm ist, oder besser: wenn wir es ihm immer wieder zuwenden, dann werden wir Menschen frei, Respekt und Liebe zu leben, weil unser Herz an der richtigen Stelle gebunden ist.

Weil wir als Menschen um unsere Grenzen und um das wissen, was Gottes Sache ist, sind die Klage und das Gebet eine Sprache, in die wir einstimmen können. Was wird in diesen Tagen geklagt und gebetet! Auch das tun Sie hier und wir in unseren Kirchen.

Und wir tun es gemeinsam:
Wir bitten dich für die Verschleppten,
für die Verletzten,
für die Trauernden,
für die, die nicht wissen,
ob sie den morgigen Tag noch erleben.
Wir bitten für alle Jüdinnen und Juden,
dass sie vor Angriffen und Hetze sicher sind
und Unterstützung erfahren, die trägt.
So treten wir mit der Not und der Bitte um Beistand
vor unseren Schöpfer.

Gott segne Israel!

Shalom Israel!