Auszüge aus Franziskus' Schreiben "Desiderio desideravi"

"Lassen wir die Streitereien hinter uns"

Aufgeschlagenes Messbuch in einer Sakristei / © Harald Oppitz (KNA)
Aufgeschlagenes Messbuch in einer Sakristei / © Harald Oppitz ( KNA )

Der Vatikan hat am Mittwoch, dem Fest der Apostel Petrus und Paulus, das Schreiben "Desiderio desideravi - Über die liturgische Bildung des Volkes Gottes" von Papst Franziskus veröffentlicht. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert zentrale Passagen in der offiziellen deutschsprachigen Übersetzung:

Liturgie: Ort der Begegnung mit Christus

9. Von Anfang an hat die Kirche, erleuchtet vom Heiligen Geist, verstanden, dass das, was von Jesus sichtbar war, was man mit den Augen sehen und mit den Händen anfassen konnte, seine Worte und Taten, die Konkretheit des fleischgewordenen Wortes, alles von Ihm in die Feier der Sakramente übergegangen ist.

10. Darin liegt die ganze kraftvolle Schönheit der Liturgie. (...) Die Inkarnation ist (...) die Methode, welche die heiligste Dreifaltigkeit gewählt hat, um uns den Weg der Gemeinschaft zu öffnen. Der christliche Glaube ist entweder eine Begegnung mit Ihm, dem Lebendigen, oder er ist nicht.

11. Die Liturgie gewährleistet uns die Möglichkeit einer solchen Begegnung. Wir brauchen keine vage Erinnerung an das Letzte Abendmahl: Wir müssen bei diesem Abendmahl anwesend sein, seine Stimme hören, seinen Leib essen und sein Blut trinken können: Wir brauchen Ihn. In der Eucharistie und in allen Sakramenten wird uns die Möglichkeit garantiert, dem Herrn Jesus zu begegnen und von der Kraft seines Paschas erreicht zu werden.

Der theologische Sinn der Liturgie

16. Dem Konzil - und der ihm vorangegangenen Liturgischen Bewegung - verdanken wir die Wiederentdeckung des theologischen Verständnisses der Liturgie und ihrer Bedeutung für das Leben der Kirche: Die allgemeinen Grundsätze, die Sacrosanctum Concilium [Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie, Anm.] formuliert hat, waren für die Reform von grundlegender Bedeutung und sind es auch weiterhin für die Förderung jener vollen, bewussten, tätigen und fruchtbaren Teilnahme an der Feier (vgl. Sacrosanctum Concilium, Nrn. 11.14), "die erste und unentbehrliche Quelle [ist], aus der die Christen wahrhaft christlichen Geist schöpfen sollen" (Sacrosanctum Concilium, Nr. 14). Mit diesem Brief möchte ich schlicht und einfach die ganze Kirche einladen, die Wahrheit und die Kraft der christlichen Feier wiederzuentdecken, zu bewahren und zu leben. Ich wünsche, dass die Schönheit des christlichen Feierns und ihre notwendigen Konsequenzen für das Leben der Kirche nicht durch ein oberflächliches und verkürztes Verständnis ihres Wertes oder, was noch schlimmer ist, durch ihre Instrumentalisierung im Dienste einer ideologischen Vision, wie immer sie aussieht, entstellt wird. (...)

Gefahr "spiritueller Weltlichkeit"

17. Ich habe wiederholt vor einer gefährlichen Versuchung für das Leben der Kirche gewarnt, nämlich der "spirituellen Weltlichkeit": Ich habe mich ausführlich im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (Nrn. 93-97) darüber geäußert und den Gnostizismus und den Neo-Pelagianismus als die beiden miteinander verbundenen Formen bezeichnet, die sie nähren. (...)

20. Wenn uns der Neo-Pelagianismus mit der Anmaßung eines durch eigene Anstrengung verdienten Heils berauscht, so reinigt uns die liturgische Feier, indem sie die Unverdientheit der im Glauben angenommenen Heilsgabe verkündet. Die Teilnahme am eucharistischen Opfer ist nicht unsere Leistung, mit der wir uns vor Gott und unseren Brüdern und Schwestern brüsten könnten. (...) Die Liturgie hat nichts mit asketischem Moralismus zu tun: Sie ist das Geschenk des Paschas des Herrn, das, wenn wir es mit Fügsamkeit annehmen, unser Leben neu macht. Man betritt den Abendmahlssaal nur, wenn man seinen Wunsch verspürt, das Pascha mit uns zu essen. (...)

Schönheit des Feierns wiederentdecken

22. Die ständige Wiederentdeckung der Schönheit der Liturgie ist nicht das Streben nach einem rituellen Ästhetizismus, der sich nur an der Pflege der äußeren Formalität eines Ritus erfreut oder sich mit einer skrupulösen Einhaltung der Rubriken zufrieden gibt. Mit dieser Aussage soll natürlich keineswegs die gegenteilige Haltung gebilligt werden, die Einfachheit mit nachlässiger Banalität, die Wesentlichkeit mit ignoranter Oberflächlichkeit, die Konkretheit der rituellen Handlung mit übertriebenem praktischen Funktionalismus verwechselt.

23. Um es deutlich zu sagen: Jeder Aspekt des Feierns muss gepflegt werden (Raum, Zeit, Gesten, Worte, Gegenstände, Kleidung, Gesang, Musik, ...), und jede Rubrik muss beachtet werden: Diese Aufmerksamkeit würde ausreichen, um zu vermeiden, dass die Gemeinde dessen beraubt wird, was ihr zusteht, nämlich das Pascha-Mysterium, das in der von der Kirche festgelegten rituellen Form gefeiert wird. Aber selbst wenn die Qualität und die Norm der feiernden Handlung garantiert wären, würde dies nicht ausreichen, um unsere Teilnahme vollständig zu gewährleisten.

Staunen über das Mysterium

24. Wenn uns das Staunen über das Pascha-Mysterium, das in der Konkretheit der sakramentalen Zeichen gegenwärtig wird, fehlen würde, könnten wir wirklich Gefahr laufen, für den Ozean der Gnade, der jede Feier überflutet, unempfänglich zu sein. Die zwar lobenswerten Bemühungen um eine Verbesserung der Qualität der Feier reichen ebenso wenig aus wie ein Aufruf zur Innerlichkeit: Selbst letztere läuft Gefahr, sich auf eine leere Subjektivität zu reduzieren, wenn sie die Offenbarung des christlichen Geheimnisses nicht aufnimmt. (...)

25. Wenn ich vom Staunen über das Pascha-Mysterium spreche, so meine ich keineswegs das, was mir manchmal durch den nebulösen Ausdruck "Sinn für das Geheimnis" ausgedrückt zu werden scheint: Zu den angeblichen Vorwürfen gegen die Liturgiereform gehört auch der Vorwurf, sie habe ihn - so heißt es - aus der Feier entfernt. Das Staunen, von dem ich spreche, ist nicht eine Art Verwunderung angesichts einer obskuren Realität oder eines rätselhaften Ritus, sondern im Gegenteil das Staunen darüber, dass sich uns der Heilsplan Gottes im Pascha Jesu offenbart hat (vgl. Eph 1,3-14), dessen Wirksamkeit uns in der Feier der "Geheimnisse", d. h. der Sakramente, weiterhin erreicht. (...)

Was bei der Liturgie auf dem Spiel steht

27. Die grundlegende Frage lautet daher: Wie kann man die Fähigkeit wiedererlangen, die liturgische Handlung in vollem Umfang zu leben? Die Reform des Konzils hat dies zum Ziel. Die Herausforderung ist sehr anspruchsvoll, weil der moderne Mensch - nicht in allen Kulturen in gleicher Weise - die Fähigkeit verloren hat, sich auf die symbolische Handlung einzulassen, die ein wesentliches Merkmal des liturgischen Aktes ist.

29. Es ist die Realität der Moderne, mit der sich die auf dem Konzil versammelte Kirche auseinandersetzen wollte, indem sie ihr Bewusstsein bekräftigte, Sakrament Christi und Licht der Heiden zu sein (Lumen Gentium), indem sie sich in das religiöse Hören auf das Wort Gottes versetzte (Dei Verbum) und indem sie die Freuden und Hoffnungen der Menschen von heute als die ihren anerkannte (Gaudium et spes). Die großen konziliaren Konstitutionen sind untrennbar miteinander verbunden, und es ist kein Zufall, dass diese einzige große Reflexion des Ökumenischen Konzils - der höchster Ausdruck der Synodalität der Kirche ist, deren Hüter ich zusammen mit Euch allen zu sein berufen bin - ihren Ausgangspunkt in der Liturgie (Sacrosanctum Concilium) hatte.

31. Ich kann in diesem Brief nicht auf den Reichtum der einzelnen Ausdrücke eingehen, das überlasse ich Eurer Betrachtung. Wenn die Liturgie "der Höhepunkt [ist], dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt" (Sacrosanctum Concilium, Nr. 10), dann verstehen wir gut, was in der Frage der Liturgie auf dem Spiel steht. Es wäre banal, die Spannungen, die es leider rund um die Feier gibt, als einfache Unterschiede zwischen verschiedenen Empfindungen gegenüber einer rituellen Form zu deuten. Die Problematik ist in erster Linie ekklesiologischer Natur.

Ich verstehe nicht, wie man sagen kann, dass man die Gültigkeit des Konzils anerkennt - obwohl ich mich ein wenig wundere, dass ein Katholik sich anmaßen kann, dies nicht zu tun - und nicht die Liturgiereform akzeptieren kann, die aus Sacrosanctum Concilium hervorgegangen ist und die die Realität der Liturgie in enger Verbindung mit der Vision der Kirche zum Ausdruck bringt, die in Lumen Gentium auf bewundernswerte Weise beschrieben wurde.

Aus diesem Grund fühlte ich mich - wie ich in dem Brief an alle Bischöfe erklärt habe - verpflichtet zu bekräftigen, dass "die von den heiligen Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. in Übereinstimmung mit den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils promulgierten liturgischen Bücher [...] die einzige Ausdrucksform der Lex orandi des Römischen Ritus [sind]" (Motu Proprio Traditionis custodes, Art. 1). Die Nichtannahme der Reform und das oberflächliche Verständnis der Reform lenken uns von der Aufgabe ab, Antworten auf die Frage zu finden, die ich immer wieder stelle: Wie können wir in der Fähigkeit wachsen, die liturgische Handlung voll zu leben? Wie können wir weiterhin darüber staunen, was bei der Feier vor unseren Augen geschieht? Wir brauchen eine ernsthafte und belebende liturgische Bildung.

(...)

"Die Kunst des Feierns pflegen"

48. Eine Möglichkeit, das lebendige Verständnis der Symbole der Liturgie zu pflegen und zu vertiefen, besteht sicherlich darin, die Kunst des Feierns (ars celebrandi) zu pflegen. (...) Die ars celebrandi kann nicht auf die bloße Einhaltung eines rubrizistischen Apparats reduziert werden, noch kann sie als eine phantasievolle - manchmal wilde - Kreativität ohne Regeln betrachtet werden. Der Ritus ist in sich selbst eine Norm, und die Norm ist nie Selbstzweck, sondern steht immer im Dienst der höheren Wirklichkeit, die sie schützen will. (...)

50. (...) Die Kunst des Feierns lernt man nicht, indem man einen Kurs in public speaking (öffentliches Reden) oder überzeugenden Kommunikationstechniken besucht (...). Was wir brauchen, ist eine gewissenhafte Hinwendung zur Feier, damit die Feier selbst ihre Kunst auf uns übertragen kann. (...)

52. Unter den rituellen Gesten, die zur gesamten Versammlung gehören, nimmt das Schweigen einen Platz von herausragender Bedeutung ein. (...) Die liturgische Stille (...) ist das Symbol für die Anwesenheit und das Wirken des Heiligen Geistes, der die gesamte feierliche Handlung belebt, weshalb sie oft den Höhepunkt einer rituellen Handlung darstellt. (...) So führt die Stille, wenn ich die zuvor genannten Momente wiederhole, zur Reue und zum Wunsch nach Umkehr; sie weckt das Hören auf das Wort und das Gebet; sie führt zur Anbetung des Leibes und des Blutes Christi (...)

Gegen "übertriebenen Personalismus"

54. Es ist zwar richtig, dass die ars celebrandi die gesamte feiernde Gemeinde betrifft, aber es ist ebenso richtig, dass die geweihten Amtsträger sich besonders darum bemühen müssen. Bei meinen Besuchen in christlichen Gemeinden habe ich oft festgestellt, dass die Art und Weise, wie sie die Feier leben, davon abhängt - im Guten und leider auch im Schlechten -, wie ihr Pfarrer der Versammlung vorsteht. Man könnte sagen, dass es verschiedene "Modelle" des Vorstehens gibt. Hier ist eine mögliche Liste von Haltungen, die, obwohl sie gegensätzlich sind, das Vorstehen auf eine Art und Weise charakterisieren, die sicherlich unzureichend ist: rigide Strenge oder übertriebene Kreativität; vergeistigender Mystizismus oder praktischer Funktionalismus; hastende Eile oder betonte Langsamkeit; lieblose Vernachlässigung oder übertriebene Raffinesse; überbordende Freundlichkeit oder hieratische Unbeweglichkeit. Trotz der Bandbreite glaube ich, dass die Unzulänglichkeit dieser Modelle eine gemeinsame Wurzel hat: ein übertriebener Personalismus des Feierstils, der zuweilen eine schlecht verdeckte Manie des Protagonismus zum Ausdruck bringt. Dies wird oft noch deutlicher, wenn unsere Feiern im Internet übertragen werden, was nicht immer angemessen ist und worüber wir nachdenken sollten. (...)

57. (...) Der Eucharistie vorzustehen bedeutet, in den Schmelzofen der Liebe Gottes einzutauchen. Wenn wir in der Lage sind, diese Realität zu verstehen oder auch nur zu erahnen, brauchen wir sicherlich kein Direktorium mehr, das uns ein angemessenes Verhalten vorschreibt. (...)

"Lassen wir die Streitereien hinter uns"

61. Ich wollte nur einige Überlegungen anstellen, die den unermesslichen Schatz der Feier der heiligen Geheimnisse sicher nicht erschöpfen. Ich bitte alle Bischöfe, Priester und Diakone, Seminarausbilder, Lehrer an den theologischen Fakultäten und Schulen sowie alle Katecheten und Katechetinnen, dem heiligen Volk Gottes zu helfen, aus dem zu schöpfen, was seit jeher die Hauptquelle der christlichen Spiritualität ist.

Wir sind aufgerufen, den Reichtum der allgemeinen Grundsätze, die in den ersten Nummern von Sacrosanctum Concilium dargelegt sind, immer wieder neu zu entdecken und die enge Verbindung zwischen der ersten der konziliaren Konstitutionen und allen anderen zu verstehen. Deshalb können wir nicht zu jener rituellen Form zurückkehren, die die Konzilsväter cum Petro und sub Petro für reformbedürftig hielten, indem sie unter der Führung des Geistes und nach ihrem Gewissen als Hirten die Grundsätze billigten, aus denen die Reform hervorging.

Die heiligen Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. haben die revidierten liturgischen Bücher per Dekret Sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II genehmigt und damit die Treue der Reform zum Konzil garantiert. Deshalb habe ich Traditionis Custodes geschrieben, damit die Kirche in der Vielfalt der Sprachen ein und dasselbe Gebet erhebt, das ihre Einheit zum Ausdruck bringt. Diese Einheit möchte ich, wie ich bereits geschrieben habe, in der gesamten Kirche des Römischen Ritus wiederhergestellt sehen.

65. In der durch Ostern neu gewordenen Zeit feiert die Kirche alle acht Tage am Sonntag das Heilsereignis. Der Sonntag ist, bevor er ein Gebot ist, ein Geschenk Gottes an sein Volk (weshalb er von der Kirche mit einem Gebot geschützt wird). Die sonntägliche Feier bietet der christlichen Gemeinschaft die Möglichkeit, sich durch die Eucharistie formen zu lassen. (...) Von Sonntag zu Sonntag stärkt uns die Kraft des gebrochenen Brotes in der Verkündigung des Evangeliums, in der sich die Authentizität unserer Feier zeigt. Lassen wir die Streitereien hinter uns, um gemeinsam auf das zu hören, was der Geist der Kirche sagt, pflegen wir die Gemeinschaft, staunen wir weiterhin über die Schönheit der Liturgie. (KNA)