Zu Besuch bei den Amish-Christen in Pennsylvania

Leben (fast) wie im 19. Jahrhundert

Kein Strom, keine Musik, keine Fahrräder: Die Amish in den USA leben nach ihren ganz eigenen Regeln, heute noch zum großen Teil wie im 19. Jahrhundert. Trotzdem sind sie die am stärksten wachsende Religionsgemeinschaft Amerikas.

Autor/in:
Renardo Schlegelmilch
Buggy - nennen die Amish ihre Kutsche  / © Renardo Schlegelmilch (DR)
Buggy - nennen die Amish ihre Kutsche / © Renardo Schlegelmilch ( DR )

Es ist später Nachmittag im Haus von Joseph, Susi und ihren vier Kindern im Lancaster County in Pennsylvania, etwa 100 Kilometer westlich von Philadelphia. Wir unterhalten uns über ihr Leben, das heute noch zum großen Teil so aussieht, wie das ihrer deutschen Auswanderervorfahren vor hunderten von Jahren. Die Sonne senkt sich. "Moment, ich mach mal Licht an" sagt Susi und holt eine kleine Laterne aus dem Schrank. Mit einem Knopfdruck geht das Licht an – mit Strom. "Keine Sorge", lächelt die Hausfrau mit Kleid, Schürze und Häubchen die Gäste an. "Das ist kein Strom, nur Batterie."

Wer das Leben der Amish nur aus Filmen und Büchern kennt und eine rückständige Gesellschaft des 19. Jahrhunderts erwartet, wird ein wenig enttäuscht sein. Auch bei den Amish entwickelt sich die Welt weiter. Die Regeln für den Alltag werden vom jeweiligen (ehrenamtlichen) Bischof für jede Gemeinschaft individuell festgelegt, aber viele von Ihren benutzen inzwischen Batterien.

Fotos gibt es nur von hinten / © Renardo Schlegelmilch (DR)
Fotos gibt es nur von hinten / © Renardo Schlegelmilch ( DR )

Kein Fernsehen, kein Handy, kein Internet

Sie wollen nur nicht an das öffentliche Stromnetz angeschlossen werden. "Das wird zu viel, dann kämen als nächstes Fernsehen, Handy und Internet" gibt Susis Mann Joseph zu. Er sitzt mit seinem grauen Hemd, Hosenträgern und Strohhut gut gelaunt neben seiner Frau am Küchentisch. Während die vier Kinder still im Nebenzimmer sitzen. Schuhe trägt übrigens keiner. Höchstens Mal die Männer, die auf den Feldern arbeiten. Das gehört nicht zu ihrer Lebensart.

Die Amish sind ein Ausnahmefall der Geschichte. Sie gehören der protestantischen Täuferbewegung an und sind ab dem 17. Jahrhundert aus Süddeutschland und der Schweiz in die neue Welt ausgewandert. Dort haben sie sich in Pennsylvania und dem mittleren Westen der USA angesiedelt.

Die Deutschen in der Ferne

Bis heute spielt ihre deutsche Herkunft eine große Rolle. Sie nennen sich "Pennsylvania Dutch", wobei "dutch" nicht vom holländischen kommt, sondern eine Verballhornung von "deutsch" ist. Alle, die nicht ihrer Gemeinschaft angehören, nennen sie "English". Viele von ihnen sprechen zuhause auch noch deutsch, obwohl das nicht viel mit dem Hochdeutsch des 21. Jahrhunderts zu tun hat.

Versucht man mit Joseph und Susi ein Gespräch auf deutsch zu führen, versteht man gegenseitig so ungefähr 40%. Die Amish kommen zum großen Teil aus der Kurpfalz. Man stelle sich den heftigsten pfälzerischen Akzent vor, bei dem man kaum noch hinterherkommt. Dann legt man noch mal zwei Schippen drauf. So kommt man beim "Pennsylvania Dutch" an. Hochdeutsch beherrschen die Amish allerdings trotzdem, in gewissem Sinne, denn ihre Gottesdienste werden genau im gleichen Deutsch gehalten wie unsere, auch wenn die Liturgie deutlich abweicht.

Religion im Mittelpunkt des Alltags

Überhaupt spielt der Glaube für die Amish im Alltag eine große Rolle, wenn nicht die zentrale. Wegen religiöser Verfolgung haben sie damals ihre europäische Heimat verlassen und sich in Amerika angesiedelt, wo Religionsfreiheit damals und heute groß geschrieben wurde und wird. Das Gemeindeleben sieht allerdings ein wenig anders als als bei Katholiken oder Protestanten.

Gottesdienst wird alle zwei Wochen gefeiert. Kirchen gibt es nicht. Die Andachten wechseln reihum durch die Privathäuser der Gemeinde, wo auch Taufen, Hochzeiten und selbst Beerdigungen gefeiert werden. Viele gehen übrigens jeden Sonntag zum Gottesdienst, dann aber in der zweiten Woche in anderen Gemeinden. Kommunion wird bei den Amish auch gefeiert, die spielt in ihrem Glauben eine große Rolle. Allerdings nur zwei Mal im Jahr: Die Frühjahrskommunion und die Herbstkommunion. Jeweils mit zwei Wochen persönlicher Vorbereitungszeit.

Gemolken wird mit Luftdruck / © Renardo Schlegelmilch (DR)
Gemolken wird mit Luftdruck / © Renardo Schlegelmilch ( DR )

Melken mit Druckluft

Von Susi und Joseph geht es weiter zur Milchfarm von Jeremiah, der gerade wie jeden Morgen und Abend seine Kühe zu melken beginnt. Nicht per Hand, sondern mit einer Saugvorrichtung, die mit Druckluft betrieben wird. Der Strom kommt aus einem Dieselgenerator auf dem Grundstück. Auch das ist für viele Amish heutzutage kein Problem mehr.

Wer aber denkt, dass sie ihr traditionelles Leben wie im 19. Jahrhundert aufgegeben haben, der irrt. Verboten sind für viele Gemeinden bis heute neben dem Stromnetz oder Autos selbst Fahrräder, Fotografie und Musik. Fahrräder bringen einen zu schnell und zu weit von seiner Heimat weg, die man sowieso außer für den Urlaub nicht verlassen sollte. Wirklich ernst genommen wird diese Regel aber nur zum Teil. Wer nicht mit der Kutsche unterwegs ist, fährt Tretroller – mit großen Rädern wie bei einem Fahrrad. Es fehlen nur die Pedale.

Kein Fahrrad, ein Tretroller ohne Pedale / © Renardo Schlegelmilch (DR)
Kein Fahrrad, ein Tretroller ohne Pedale / © Renardo Schlegelmilch ( DR )

Fotografie ist auch verboten. Wenn der Mensch Ebenbild Gottes ist, würde man sich damit ein Bildnis von Gott machen. Da verstehen die Amish keinen Spaß. Uns als Besuchern wird eingeschärft: "Ihr könnt die Leute alles fragen. Bittet Sie nur nicht um ein Foto, das ist für sie eine große Beleidigung." Bei der Arbeit oder von hinten fotografieren ist allerdings kein Problem, nur das Gesicht darf nicht zu sehen sein.

Leben (fast) ohne Musik

Musik gehört auch nicht zum Alltag der Amish. Mit einer großen Ausnahme: Dem Gottesdienst. Bis heute singen sie alte deutsche Kirchenlieder, die allerdings ziemlich anders klingen als bei uns. Die Lieder werden besonders langsam und fast nur auf einem Ton gesungen. Rhythmus ist keine gute Idee, wird uns erzählt. Der würde zum Tanzen führen, und wer weiß, was dann noch kommt… Die Amish schreiben übrigens auch für ihre Kirchenlieder keine Melodien nieder. Deswegen hat über Generationen der Weitergabe das Liedgut nicht mehr viel mit den ursprünglichen Gesängen zu tun.

Eine ganz neue Form der Musik gibt es allerdings doch. Jugendliche wollen gegen Autoritäten rebellieren. Deshalb ist der neuste Trend unter den Teenagern im Lancaster County die Mundharmonika. Ganz korrekt und nach den Regeln ist das natürlich nicht, aber bis jetzt haben die Bischöfe, die das Gemeindeleben auch im privaten Raum regeln, sich noch nicht beschwert.

Für den Notfall haben viele Höfe eine Solarbetriebene Telefonzelle / © Renardo Schlegelmilch (DR)
Für den Notfall haben viele Höfe eine Solarbetriebene Telefonzelle / © Renardo Schlegelmilch ( DR )

Die Amish wachsen rapide an

43.000 Amish gibt es im Moment in Pennsylvania. Der Bundesstaat an der US-Ostküste zählt knapp 13 Millionen Einwohner. Sie sind ganz klar eine Minderheit. Während andere Religionsgemeinschaften in den USA allerdings schrumpfen, verzeichnen die Amish einen starken Zuwachs. Alle 20 Jahre – mit jeder Generation – verdoppeln sich ihre Mitgliederzahlen. Das hat hauptsächlich mit den vielen Kindern zu tun, die eine Amish Familie bekommt. Vier, wie bei Joseph und Susi, sind da noch wenige. Auch zehn Kinder sind keine Seltenheit. Konversionen gibt es wenige. Die Gemeinde erzählt uns von einem Interessenten in den letzten Jahren, der allerdings kurz vor der Aufnahme in die Gemeinschaft doch kalte Füße bekommen hat.

Austritte gibt es dafür relativ selten. Die Amish sind stolz darauf, dass trotz aller modernen Verlockungen 92 Prozent ihrer Gemeinschaft treu bleiben. Wer das Erwachsenenalter erreicht, muss sich – nach einer Auszeit in der modernen Welt, dem sogenannten Rumspringa-Ritual – aktiv entscheiden weiter Amish zu bleiben. Nur die wenigsten verlassen auf Dauer die Gemeinschaft.

Warum wollen sie keinen Strom?

Ob das aber bei allen wirklich eine mündige, gut informierte Entscheidung ist, kann man durchaus hinterfragen. Die Amish wollen aus einem ganz bestimmen Grund nicht ans Stromnetz, weil sie sich sicher sind, dass Jugendliche, die mit Fernsehen und Internet aufwachsen, dann doch eine Sehnsucht nach der modernen Welt entwickeln.

Wer nie Erfahrungen damit gemacht hat und beim Rumspringa einmal in die moderne Welt geworfen wird, fühlt sich vielleicht überfordert und kehrt lieber in die althergebrachte Welt ohne Handy und Auto zurück. Eine reife und mündige Entscheidung wird das sicher nicht in jedem Fall sein.

"Deutschland? Gibt's da Kühe?"

Jeremiah schließt die Melkmaschine von einer Kuh ab und geht zur nächsten. "Wo kommst du her?" "Aus Deutschland!" sage ich, in der Hoffnung Interesse für die Herkunft seiner Vorfahren zu wecken. "Deutschland? Wo ist das denn? Habt ihr da auch Kühe?" Für viele Amish geht ihr persönlicher Horizont nicht weit über die eigene Farm hinaus. Das hat nichts mit Dummheit zu tun, sondern ist von der Religion so gewollt. Die Schule wird nur bis zur achten Klasse besucht.

Ein Amish braucht nur genug Bildung, um Gott zu dienen. Alles andere ist unnötig. Das hat die Religionsgemeinschaft schon öfters in Konflikte mit dem Gesetz gebracht. In Pennsylvania herrscht Schulpflicht bis zum 16. Lebensjahr. Weil sich viele Amish weigern, ihre Kinder so lange in die Schule zu schicken, sind einige Eltern schon im Gefängnis gelandet. Wenn auch nur für 90 Tage. Heute ist das allerdings kein Problem mehr. Mit Berufung auf die Religionsfreiheit hat die Gemeinschaft vor Gericht eine Ausnahme von der allgemeinen Schulpflicht erstreiten können.

Buggy - nennen die Amish ihre Kutsche  / © Renardo Schlegelmilch (DR)
Buggy - nennen die Amish ihre Kutsche / © Renardo Schlegelmilch ( DR )

Verschwindend geringe Kriminalitätsrate

Der Bruch der Schulpflicht bleibt auch so ziemlich das einzige Verbrechen in der Welt der Amish, nimmt man die etwaige jugendliche Trunkenheitsfahrt mit der Kutsche mal aus. Gewalt von Amish gegen Amish ist quasi nicht existent. Nach eigenen Angaben bekommen Mitglieder der Religionsgemeinschaft auch keinen Krebs. Wissenschaftler haben das noch nicht so ganz verstehen können. Sie vermuten aber, dass das gesunde Leben vor allem mit dem selbst angebauten Essen, vielleicht aber auch von der fehlenden Strahlung der Elektrogeräte zu tun hat

Werden die Amish von den modernen Menschen in ihrem Umfeld belächelt? Keineswegs. Die "Pennsylvania Dutch" genießen in den Dörfern und Städten des Lancaster County großen Respekt. "Hast du einen Amish zum Freund, musst du dir nie Gedanken machen, jemanden zu finden, der dir bei Handwerksarbeiten hilft" lacht unser Reiseführer Bob, der uns durch die Region führt. "Die English als Freunde zu haben ist auch ziemlich nützlich" erzählen uns Susi und Joseph. Wer einen Unfall mit der Kutsche hat, ist doch froh, wenn jemand mit einem Handy vorbeikommt, der einen Krankenwagen rufen kann.

Nähmaschine mit Luftdruck / © Renardo Schlegelmilch (DR)
Nähmaschine mit Luftdruck / © Renardo Schlegelmilch ( DR )

Überhaupt scheint das Miteinander mit den Amish trotz ihres sehr anderen Lebens harmonisch abzulaufen. Viele wünschten sich insgeheim sogar ein Leben wie die Amish, gesteht Barbara, die mich mit dem Taxi zurück nach Philadelphia bringt. "Die haben kein Problem mit Burn Out, Social Media, Karrieredenken. Achtsamkeit, das wünschen wir uns doch alle irgendwie."

Die Namen in dieser Reportage wurden geändert.

Quelle:
DR