Zertifikatskurs gegen Machtmissbrauch steht in den Startlöchern

"Universität und Kirche haben Parallelen"

Es geht darum Missbrauch zu erkennen, bevor er passiert. Ein neuer Kurs in Würzburg will Strukturen verändern. Und zwar in Uni und Kirche, Klinik, Schule und mehr. Der Kurs ist nicht nur für Studierende gedacht.

Autor/in:
Lisa Maria Plesker
Leere Stühle in einem Hörsaal / © Cagkan Sayin (shutterstock)
Leere Stühle in einem Hörsaal / © Cagkan Sayin ( shutterstock )

"Universität und Kirche haben mehr Parallelen, als man auf den ersten Blick vielleicht denkt", sagt Matthias Remenyi. Und zwar im Guten wie im Schlechten, findet der Professor für Fundamentaltheologie an der Uni Würzburg: Beide Systeme seien sehr alt, arbeiteten in relativ starren Hierarchien, seien mit einem enormen moralischen Anspruch aufgeladen und mit gewissen Selektionsaufgaben betraut. Sie seien beide hoch ritualisiert und kompetitiv. 

"Das heißt, die Strukturen, wie Macht ausgeübt wird, sind gar nicht so unähnlich", erklärt Remenyi im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Der Schock, den die kirchliche MHG-Studie (2018) bei ihm auslöste - seine persönliche Betroffenheit über die sexuelle Gewalt und die Machtmissbräuche in der Kirche - stellte den Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät vor eine doppelte Herausforderung.

Er war überzeugt: Sowohl im Bereich der Kirche als auch im universitären Kontext musste sich dringend etwas ändern.

Auch Kollegen an der Universität sahen das so; eine Ringvorlesung über missbrauchte Macht fand großen Anklang. Daraus entstand die Idee eines Zertifikatskurses gegen Machtmissbrauch. Ziel der Ausbildung: Mitarbeitende in verschiedenen Institutionen mit hierarchischem Gefälle zu qualifizieren: in therapeutischen, pflegenden und pädagogischen Berufen, immer im Kontakt mit Schutzbefohlenen.

Zweites, aber nicht weniger wichtiges Kursziel: das Anstreben eines Kulturwandels, sowohl in der eigenen Institution als auch im gesellschaftlichen Umfeld.

Vulnerable Promotionsphase

"Ich sehe es als meinen bescheidenen Beitrag zu diesem ganzen Desaster um sexualisierte Gewalt und Missbrauch", erklärt Remenyi.

"Und es ist ein Thema, das mich im Uni-Kontext nachhaltig beschäftigt." Hier sei zum Beispiel eine drängende Frage, wie man in der Zusammenarbeit mit Doktorandinnen und Doktoranden Machtmissbrauch verhindern könne. Gerade diese Phase sei höchst vulnerabel. "Wenn Sie eine Doktorarbeit machen, dann haben Sie in der Regel ein und dieselbe Person, die Ihr Dienstvorgesetzter, Ihr Betreuer der Qualifizierungsarbeit und Ihr Begutachter ist", verdeutlicht Remenyi.

Doch in anderen Kontexten seien die Mechanismen von Machtmissbrauch ganz ähnlich, sagt Remenyi: Ob der Professor Gefälligkeiten dafür erwarte, dass der oder die Studierende mit aufs nächste Paper genommen werde, ob der Trainer im Sportverein sage: 'Wenn du mir jetzt nicht diese oder jene Gefälligkeit erweist, nehme ich dich nicht mit zum nächsten Kader', oder ob der Pfarrer Bedingungen für einen Posten in der Pfarrgemeinde stelle: "Der Missbrauch ist immer derselbe", erklärt der Theologe.

Kooperation verschiedener Fachrichtungen

Vor diesem Hintergrund konzipierte er mit der Dekanin der Fakultät für Humanwissenschaften, Andrea Kübler, und dem Klinikdirektor der Kinder- und Jugendpsychiatrie Würzburg, Marcel Romanos, fakultätsübergreifend das neue Zertifikatsprogramm "Machtmissbrauch erkennen und verhindern" (MEV). Im Wintersemester startet der erste Jahrgang.

"Sexuelle Gewalt an Kindern, Mobbing im Büro, Ausbeutung von Mitarbeitenden - Machtmissbrauch kommt in jedem Setting vor", sagt Romanos im Infovideo zum neuen Studiengang. Aus diesem Grund müsse Machtmissbrauch erkannt werden, Macht müsse transparent gemacht, begrenzt und kontrolliert werden. Das Studium thematisiert ganz verschiedene Praxis-Settings: vom Kindergarten über die Schule, Universität, Kliniken, Behinderteneinrichtungen, Heime, Kirche,

Kultur- und Musikeinrichtungen und Musikhochschulen bis hin zu Sportvereinen und Ehrenamt. Fachleute aus dem jeweiligen Bereich erstellen die Studieninhalte.

Digital und asynchron

So vielfältig wie die Praxisbezüge sind auch die möglichen Studienbewerber: "Wir haben neben unseren Studierenden und kirchlichen Mitarbeitern gedacht an: Musikpädagogen, Pflegekräfte, Erzieherinnen, Therapeutinnen und Lehrkräfte", sagt Fundamentaltheologe Remenyi. Unter bestimmten Voraussetzungen könnten sogar Bewerber ohne Hochschulzugangsberechtigung angenommen werden, wie etwa Erzieherinnen oder Krankenpfleger mit entsprechender Berufspraxis.

Wer an dem weiterqualifizierenden Studium teilnehmen möchte, muss lediglich Studiengebühren, aber keine Zertifikatsgebühren zahlen.

Interessenten müssen auch nicht unbedingt im Würzburger Umkreis wohnen: Die allermeisten Inhalte sind asynchron und digital abrufbar.

Videos von Vorlesungseinheiten sind online verfügbar und können flexibel dann bearbeitet werden, wenn die Studierenden dafür Zeit haben. Der Kurs erstreckt sich über zwei Semester, mit jeweils fünf Semesterwochenstunden Studienumfang.

Mit Betroffenen im Gespräch

Wie Remenyi erklärt, wird es im Wintersemester an wenigen Terminen ergänzend Kolloquien geben, die für die Gesamtgruppe synchron digital per Zoom stattfinden. Eine einzige Veranstaltung macht eine Teilnahme in Würzburg erforderlich: ein Gespräch mit Betroffenen.

Während im Wintersemester zunächst die Grundlagen besprochen werden - Was ist Machtmissbrauch, wo tritt er auf, was sagt die Forschung dazu - geht es im Sommersemester um Handlungskompetenz: Wie werden Schutzkonzepte erstellt, wie lässt sich missbräuchliches Verhalten dechiffrieren, und wie lässt sich ein Kulturwandel einleiten? Ein Studientag mit Präsenzpflicht vor Ort beschäftigt sich mit Schutzkonzepten.

Schwer zu erfassende Grauzonen

Anhand des Films "Die Auserwählten" (2014) analysieren die Teilnehmenden die dort gezeigten Strukturen von Machtmissbrauch an der Odenwaldschule. Auch an diesem Beispiel zeige sich: "Es gibt Formen von Machtmissbrauch, die sind so eklatant, dass klar ist: Da greifen gesetzliche Bestimmungen." Was dagegen viel schwerer zu bestimmen sei, seien die Grauzonen: "Ich kann ja als Prof sehr klar signalisieren, was ich gerne hätte - auf eine Weise, die die Form wahrt - und trotzdem unbotmäßig Macht ausüben", sagt Remenyi.

Gleiches gelte für kirchliche Leitungspersonen oder auch für Manager großer Unternehmen. Es gehe eben nicht nur um harte Diktatoren, die ihren Willen durchpressen, sondern auch um psychologische Mechanismen, bei denen Macht so eingesetzt werde, dass das Gegenüber gar nicht merke, dass es über den Tisch gezogen werde. Letztlich sei das auch eine Frage der Ethik.

Kein einmaliger Testballon

Am 15. September endet die Bewerbungsfrist für den ersten MEV-Jahrgang. "Es läuft hervorragend an", freut sich Remenyi. Die Mindestzahl der für den Studiengang nötigen Bewerber sei schon deutlich übertroffen, Bewerbungen seien aber noch möglich. Beworben hätten sich bisher sowohl Studierende der Universität Würzburg als auch Mitarbeitende aus dem universitären und dem kirchlichen Bereich. "Wir haben auch Institutionen, die sagen, wir wollen das nutzen, um von uns Multiplikatoren zu schulen."

Der Zertifikatskurs ist auf Dauer angelegt und soll einen Kulturwandel begleiten, wie Remenyi erklärt. "Von daher hoffen wir, dass wir auch in den nächsten Jahren genügend Interessentinnen und Interessenten bekommen." Das erste Studienjahr werde evaluiert, so dass die Organisatoren auf möglichen Korrekturbedarf reagieren könnten. Remenyi ergänzt: "Ein Traum von mir wäre, dass der Zertifikatskurs nicht nur ein gern gebuchtes Angebot für die Studierenden der Uni Würzburg wird, sondern auch für Mitarbeitende kirchlicher, pflegender, therapeutischer und sozialer Berufe und Einrichtungen."

Quelle:
KNA