Neue Forschungen zu Papst Pius XII. und Deutschland

Zentrale Rolle in der internationalen Politik

Vor knapp zwei Jahren wurde das Vatikanische Apostolische Archiv für den Pontifikat Pius XII. geöffnet. Im Zentrum steht das Verhältnis des Papstes zum Nationalsozialismus. Doch es gibt weitere offene Forschungsfragen.

Autor/in:
Christiane Laudage
Papst Pius XII. (KNA)
Papst Pius XII. / ( KNA )

Über Papst Pius XII. ist schon sehr viel geschrieben worden. Besonders im Hinblick auf eine mögliche Seligsprechung wurde sein Verhalten zum Nationalsozialismus und Holocaust mit einer tief polarisierenden Intensität diskutiert. In der neuen Ausgabe der Fachzeitschrift "Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken" stellt der wissenschaftliche Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Rom, Simon Unger-Alvi, einen Themenschwerpunkt zu Papst Pius XII. und Deutschland vor.

Simon Unger-Alvi ordnet das Pontifikat Pius XII. in das Zeitalter der Extreme ein, das die Katholiken zwang, sich mit verschiedenen Ideologien, dem Totalitarismus, der Demokratie und der Moderne auseinanderzusetzen. Obwohl während dieser Zeit die Entkirchlichung voranschritt, hat sich die katholische Kirche in diesen beiden Jahrzehnten als bedeutender Global Player etabliert, so Unger-Alvi. Der Vatikan nahm eine zentrale Rolle in der internationalen Politik ein. Mit seinen rund 80 Nuntiaturen zeigte er Präsenz und präsentierte sich gleichzeitig als über nationalen Interessen stehend. Da er aber in ideologischen Auseinandersetzungen eine klare Haltung einnahm, beeinflusste er damit die internationale politische Landschaft.

Deutschland in vier Staatsformen

Was nun Deutschland betraf, hat Eugenio Pacelli/Pius XII. das Land in vier verschiedenen Staatsformen gekannt: Als Nuntius in München seit 1917 hat er den Untergang des Kaiserreichs erlebt, dann in Berlin die Weimarer Republik, als Kardinal-Staatssekretär und schließlich als Papst das "Dritte Reich" und nach dem Zweiten Weltkrieg die demokratische Bundesrepublik.

Der Priester und Historiker Stefan Samerski zeigt, dass die verschiedenen Nuntiaturen Eugenio Pacellis in Deutschland als internationale Drehscheibe des Heiligen Stuhls funktionierten, Pacelli zu einem anerkannten Großmeister der Konkordatspolitik werden ließen und als Vorbild für vatikanische Diplomatie. Die Münsteraner Sascha Hinkel und Jörg Hörnschemeyer stellen vor, wie man "Digital Text Mining" für die Online-Edition der Nuntiaturberichte Pacellis nutzbar machen kann. 

Laura di Fabio hat für die Zeit der deutschen Besetzung Italiens (1943-1945) das Archiv der Jesuiten in Rom ausgewertet und kann über verschiedene Quellen bis in die Dörfer hinein das Vorgehen der Deutschen und den Widerstand dagegen rekonstruieren. Marion Dotter zeigt, wie man vor Ort mit Nächstenliebe gegen den Kommunismus an den Grenzen der Erzdiözese München-Freising und der Diözese St. Pölten umging.

Sex und Verhütung in Westdeutschland

Zum Schluss geht der Historiker Michael O'Sullivan auf das Thema Sex und Verhütung in Westdeutschland ein. Ausgangspunkt für seine Abhandlung ist die Ansprache von Papst Pius XII. Ende Oktober 1951 vor dem italienischen Hebammenverband, wo er die offizielle kirchliche Lehre zur Ehe, Verhütung und Abtreibung noch einmal bestätigt, aber den Ehepaaren erlaubt, die Knaus-Ogino-Methode zur Geburtenregelung zu benutzen. O'Sullivan hat unter anderem Material des Historischen Archivs des Erzbistums Köln (HAEK) benutzt, um die Rezeption der Rede einzuordnen.

In Leserbriefen an die Zeitschrift "Frau und Mutter" ging eine lebhafte Diskussion los und in der Stadt Köln wurden deutlich mehr Fiebermesser verkauft, die man für die Bestimmung der fruchtbaren Tage zur Anwendung der Knaus-Ogino-Methode benötigte. Schlussendlich haben die Menschen, die in Sachen Verhütung auf Nummer sicher gehen wollten, dann doch entsprechende Produkte bei Beate Uhse bestellt.

Die Rede an den Hebammenverband verantwortete der Jesuit Franz Hürth (1880-1963). Der Münsteraner Historiker Matthias Daufratshofer, der nicht an der Aufsatzsammlung beteiligt war, hat 2021 nach intensiver Auswertung verschiedenster, vor allem römischer Archive, eine Doktorarbeit über den Jesuiten veröffentlicht, der als "Holy Ghostwriter" erst für Papst Pius XI., dann besonders für Pius XII. tätig war. Hürth war von Ende der 1920er Jahre bis zum Tod von Pius XII. 1958 für alle moraltheologischen Fragen zuständig und hat eine rigide Sexualmoral entworfen, deren Einhaltung von den Priestern im Beichtstuhl abgefragt werden sollte.

Viele offene Fragen

Alle diese Veröffentlichungen sind erst der Anfang. Unger-Alvi sieht die Historiker mit einer Vielzahl von Fragen konfrontiert, über die bislang noch kaum geforscht wurde, denn in der Regel endete das Interesse an dem Pius-Pontifikat mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Was waren die großen institutionellen, sozialen und religiösen Veränderungen in der katholischen Kirche der Zeit? Was war die vatikanische Haltung zur Demokratie, den Menschenrechten, totalitären und autoritären Regimen? Wie gingen Pius XII. und die Kurie mit dem Erbe des Faschismus, der Kollaboration und des Holocausts innerhalb der Kirche nach 1945 um? In welcher Weise nahm der Vatikan Einfluss auf den Kalten Krieg? Wie reagierte der Vatikan auf die Gründung Israels oder die Dekolonisation in Afrika oder Asien?

Neben diesen politischen Fragen, so Unger-Alvi, werden Historiker noch zu untersuchen haben, wie Pius XII. als Theologe die Säkularisierung, den technischen Fortschritt oder die sich verändernden Verhältnisse zwischen Mann und Frau verarbeitete. 

Für wissenschaftliche Grundlagenforschung ist Zeit nötig, aber es ist schon jetzt erkennbar, dass in den nächsten Jahren das Wissen über den Pontifikat Pius XII. auf eine deutlich breitere Basis gestellt werden wird. Und vielleicht sind auch noch Überraschungen zu erwarten.


Quelle:
KNA
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