Hamburger Erzbischof sieht in der Krise etwas Neues wachsen

"Wir müssen diese Unterbrechung aushalten"

Die pulsierende Hansestadt im Norden erwacht langsam wieder aus dem Corona-Tiefschlaf. Was Erzbischof Heße etwas mehr Kopfzerbrechen bereitet, sind die anderen Teile seiner flächenmäßig großen Diözese: Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.

Erzbischof Stefan Heße / © Lars Berg (KNA)
Erzbischof Stefan Heße / © Lars Berg ( KNA )

HIMMELKLAR: Das ist ja die große Diskussion im Moment: Haben Sie es schon zum Frisör geschafft?

Stefan Heße (Erzbischof des Erzbistums Hamburg):  Ein Termin war ausgefallen, der nächste steht mir noch bevor. Mir geht es jetzt also wie allen anderen: Die Haare sind etwas länger, aber es rückt jetzt in greifbare Nähe und ich freu mich, wenn die Haare dann wieder etwas kürzer werden. Ich bin mal gespannt, wie das alles so läuft beim Frisör.

HIMMELKLAR: Es gibt ja auch größere Probleme, die man haben könnte, als ein paar Wochen nicht zum Frisör zu gehen.

Heße: Allerdings, das ist harmlos.

HIMMELKLAR: Wie sieht denn bei Ihnen in der Stadt die Lage aus? Wie ist die Stimmung?

Heße: Die Stadt ist im Moment so ruhig, wie ich sie in den fünf Jahren, wo ich jetzt hier bin, noch nie erlebt habe. Normalerweise ist das eine Metropole. Zum Beispiel hier im Sankt Georgs Viertel, wo ich wohne, das ist ja direkt beim Bahnhof, da kommen jeden Tag eine halbe Million Menschen an und fahren ab, also alleine am Bahnhof! Das Geschäftsleben an den großen Geschäftsstraßen in der Innenstadt scheint wieder ein bisschen hochzugehen, die Geschäfte haben geöffnet, aber ihre Quadratmeter etwas reduziert und eingeschränkt. Die Leute kommen wieder, aber es stehen auch Leute in Schlangen vor den Geschäften. Das scheint sehr diszipliniert zu verlaufen und wirklich so, dass die Leute mit Respekt voreinander und in Geduld diese Maßnahmen jetzt praktizieren, zum Schutz von sich selber und auch der anderen. Das läuft sehr gut.

HIMMELKLAR: Was ist, wenn Sie mit den Menschen reden? Wie ist da die Stimmung?

Heße: Ich habe telefonisch mit den einen oder anderen Kontakt oder wenn ich zum Dom herüber gehe oder hier einmal spazieren gehe. Es gibt die Beter, die ich in der Kathedrale beobachte und mit denen ich hin und wieder auch spreche. Sie beten bewusst im Dom und nutzen das stille Gebet. Das, finde ich, ist schon etwas Bemerkenswertes, da erwacht etwas sehr Persönliches. Ich habe zwischendurch etwas von Romano Guardini gelesen, der hat ja fast vor hundert Jahren diesen berühmten Spruch gesagt: „Die Kirche erwacht in den Seelen.“ Hier erwacht auch etwas in den Seelen: Es ist offenbar so, dass die persönliche Frömmigkeit doch bei Einzelnen sehr lebendig ist. Ich höre das auch von Menschen, die zuhause mit ihren Familien Gottesdienst feiern. Zum Beispiel eine Familie mit ihren Kindern hat die Osternacht mit allen Lesungen zuhause gefeiert, mitten in der Nacht. Und dann haben sie festlich gegessen. Also die haben so ihre Hauskirche, ihre Hausliturgie miteinander gefeiert, das finde ich schon sehr bemerkenswert, was da läuft. Und es gibt natürlich auch die Ungeduldigen die sagen: Es muss aber jetzt unbedingt direkt bald wieder losgehen. Dazwischen muss man irgendwo die Spannung halten und eine Ausgewogenheit hinkriegen und auch einen Respekt voreinander.

HIMMELKLAR: Sie haben ja die Herausforderung, dass das Erzbistum Hamburg mit drei Bundesländern verhandeln muss, also sich an die Regeln von Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern halten muss, und dann haben Sie ja noch die anderen Bistümer, die es alle unterschiedlich machen. Wie geht man damit um?

Heße: Mein Ziel ist natürlich, dass wir für die Diözese eine Lösung finden und dass wir nicht hier so und da so machen. In der Tat ist es in bestimmten Details zwischen den Bundesländern sehr verschieden, vor allem die Geschwindigkeit. Ein Bundesland ist sehr schnell, das andere etwas geruhsamer. Und das dann zusammenzukriegen, das ist gar nicht so einfach, aber das ist eben die Natur dieser großen Diözese, die natürlich auch diese weiten Flächen hat. Das macht mir jetzt auch ein bisschen zu schaffen. Sonst bin ich viel unterwegs in der Diözese, das ist jetzt so einfach nicht möglich und trotzdem muss die Diözese zusammengehalten werden. Ein Weg ist zum Beispiel, dass ich nach wie vor morgens um 11 Uhr in der Kapelle hier im Bischofshaus die Messe feiere. Ich weiß mittlerweile von vielen, dass sie damit verbunden sind und wirklich mitfeiern. Das ist vielleicht auch ein Weg, um den Kontakt in der Diözese zu halten.

HIMMELKLAR: Ich kann mir vorstellen, dass die Hamburger Katholiken ganz anders ticken als meinetwegen im Fischerdorf in Mecklenburg-Vorpommern. Alleine auch schon was das Ansteckungsrisiko angeht, da gibt es ja auch riesige Unterschiede.

Heße: Also wir haben ja in Mecklenburg-Vorpommern sehr, sehr niedrige Zahlen. Vor einigen Tagen war ja sogar der neue Bürgermeister von Rostock in die Öffentlichkeit gegangen und hat gesagt: „Wir sind jetzt Corona-frei, haben keine Neuinfektionen.“ Mittlerweile hat sich das auch wieder überholt. Auch in Schleswig-Holstein sind die Zahlen niedrig, in Hamburg ist es mehr. Viele Ansteckungen haben die Hamburger offenbar aus den Skiferien im März aus Österreich mitgebracht. Mittlerweile hat sich das wieder so ein bisschen eingependelt.

HIMMELKLAR: Tourismus ist das Stichwort; der war ja zwischenzeitlich zum völligen Erliegen gekommen.

Heße: Ja, da mache ich mir Sorgen drum, weil wir hier in Hamburg natürlich auch von vielen Touristen leben, aber vor allem Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern leben von den vielen Urlaubern. Das Ostergeschäft ist ausgefallen, ich bin mal gespannt, was im Sommer möglich sein wird, wie da die Bedingungen sein werden. Und das ist ja auch für uns als Kirche etwas Wichtiges, weil gerade in den Sommermonaten unsere Gemeinden ganz stark und groß durch die vielen Touristen und die Gläubigen darunter werden. Sie kommen dann auch zu den Gemeinden und feiern die Gottesdienste mit. Das wird in diesem Jahr wahrscheinlich sehr viel anders werden.

HIMMELKLAR: Das wird noch Konsequenzen haben, die wir alle noch nicht absehen können, glaube ich.

Heße: Ja, die wirtschaftlichen Konsequenzen, die kennen wir auch noch nicht so ganz. Das ist das eine, das wird sich sicherlich auch dann in der Kirchensteuer niederschlagen, dann in den Haushalten unserer Diözesen, ich bin gespannt auf die psychosozialen Konsequenzen der ganzen Geschichte. Man sagt, dass bei der Telefonseelsorge die Beratungsgespräche zunehmen. Die vielen alten Menschen machen mir Sorgen, die jetzt keinen Besuch bekommen können. Ich bekomme es in der Pastoral mit, gerade da wo Menschen eine Trauer beklagen müssen, weil ein Mensch gestorben ist und wo sie eben jetzt nicht richtig trauern können, wo sie zum Teil gar nicht bei der Beerdigung dabei sein können, weil die Zahlen sehr beschränkt sind, wo sie nicht Abschied nehmen können vom Verstorbenen. Also das sind, glaube ich, Phänomene, die wir erst in der Folge so richtig gewahr werden und ich glaube, das wird nicht ganz spurlos an uns Menschen vorüber gehen. Trauern ist etwas Urmenschliches, sich begegnen ist auch etwas Urmenschliches. Und wir sind eher Wesen, die auf Nähe aus sind. Und im Moment schlägt das Pendel zur anderen Seite, zur Distanz aus. Da müssen wir eine gute Balance finden.

HIMMELKLAR: Wenn Sie sich so im Alltag umgucken, womit wir bei der Abschlussfrage wären, was bringt Ihnen Hoffnung im Moment?

Heße: Also Hoffnung bringt mir zum Beispiel dieses Entschleunigen. Ich beobachte ein Phänomen in dieser Zeit: Das Leben wird ruhiger, wird etwas langsamer und ich glaube, das tut uns irgendwie gut. Ich frage mich: Was heißt das in der Konsequenz für danach? Was mir Hoffnung gibt, ist, was ich eben schon angedeutet hatte: Die Kirche erwacht in den Seelen, also es ist diese persönliche Frömmigkeit. Ich glaube, da wächst etwas und für mich ist die Frage: Wie geben wir dem in unseren Gemeinden Raum? Und ein anderes Phänomen, das ich beobachte, ist, Nähe. Ich glaube wir merken, wie sehr wir die Nähe vermissen und müssen uns fragen: Was ist die Form von Nähe, die wir jetzt neu wachsen lassen müssen? Was ist auch die Nähe, die wir in unseren Kirchgemeinden brauchen? Wie leben wir in unserer Diözese? Wie leben wir diese Nähe, diese spürbare Nähe und dieses wirkliche Zusammensein? Also dass der eine auch vom anderen lebt und dass wo zwei oder drei versammelt sind, Gott unter ihnen ist. Das ist doch etwas, was uns mehr herausfordert. Das sind solche Stellschrauben, wo ich gerne darauf achten würde und wo ich den Eindruck habe, da wächst jetzt schon etwas. Das sollten wir gut im Blick behalten und nicht schnell wieder Normalität vortäuschen; sondern eher diese Unterbrechung ernst nehmen, so weh sie tut und so sehr uns das unter den Nägeln brennt. Das haben wir als religiöse Menschen wirklich mitzuverantworten, denn ich erinnere mich immer gerne an Johann Baptist Metz aus Münster, einen großen Fundamentaltheologen, der gesagt hat: „Die kürzeste Definition von Religion ist Unterbrechung.“ Wir haben jetzt eine sehr starke Unterbrechung. Das ist auch ein sehr religiöses Phänomen, das wir nicht zu leicht durch allzu große Normalität übertünchen, übermalen sollten. Wir müssen diese Unterbrechung aushalten und gucken, was das für unsere Kirche, unsere Welt nachhaltig bedeuten könnte.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Das Interview ist Teil des Podcasts Himmelklar – ein überdiözesanes Podcast-Projekt koordiniert von der MD GmbH in Zusammenarbeit mit katholisch.de und DOMRADIO.DE. Unterstützt vom Katholischen Medienhaus in Bonn und der APG mbH. Moderiert von Renardo Schlegelmilch.


Podcast: Himmelklar - Fürchtet Euch nicht (MDG)
Podcast: Himmelklar - Fürchtet Euch nicht / ( MDG )
Mehr zum Thema