Wie Wissenschaftler auf Martin Luther und die Musik blicken

Alte Legenden und moderne Interpretationen

Halten Sie Martin Luther für den Erfinder des Kirchenlieds? Das ist leider nur eine Legende. Die sich allerdings beharrlich hält, auch unter Historikern. Musiker indes lassen sich bis heute von Luther inspirieren.

Autor/in:
Carlo Mertens
Orgelspieler am Pedal der Orgel / © Harald Oppitz (KNA)
Orgelspieler am Pedal der Orgel / © Harald Oppitz ( KNA )

"Musik ist eine halbe Disziplin und Zuchtmeisterin, so sie die Leute gelinder und sanftmütiger, sittsamer und vernünftiger macht." Kein Zweifel, Martin Luther wies der Musik eine tragende gesellschaftliche Rolle zu. Doch spiegelt sich das auch in den aktuellen Neuerscheinungen zum 500. Gedenkjahr des Reformationsbeginns wider? Nüchtern betrachtet: Die Kirchenlieder des Wittenberger Reformators sind kaum ein Thema in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Luthers Leben.

Im just erschienenen Opus "Die Marke Luther" des britischen Historikers Andrew Pettegree singt die frühe Luthergemeinde bereits viele Lieder im Gottesdienst - was nachweislich eine Legende des 18. Jahrhunderts ist. Der lutherische Wortgottesdienst war in der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert einem katholischen noch sehr ähnlich: die Gemeinde sang sehr wenig, ein Chor übernahm diese Aufgabe. Pettegree, der als einer der führenden Experten für das Europa im Zeitalter der Reformation gilt, schreibt weiter, dass der Theologe über 40 Lieder komponiert habe - auch diese Aussage ist heute in den Augen renommierter Musikwissenschaftler nicht mehr haltbar.

Luther hat wenige Lieder komponiert

Luthers Rolle für die Musik der Reformation wurde in späteren Jahrhunderten stark ausgeschmückt. Der Musikwissenschaftler Konrad Küster zeigt in seinem soeben erschienenen Buch "Musik im Namen Luthers: Kulturtraditionen seit der Reformation" die Gründe dafür auf. Ausschlaggebend ist ihm zufolge das Bedürfnis im 18. Jahrhundert, die Kunstmusik im Gottesdienst zu reduzieren und die Gemeinde stärker zu beteiligen. Luther wurde erst ab diesem Zeitpunkt zum Erfinder des Kirchenliedes stilisiert.

Sehr wenige Lieder lassen sich jedoch tatsächlich als Kompositionen von Luther bezeichnen. Der Wittenberger arbeitete sehr eng mit Komponisten seiner Zeit zusammen, die seine Psalmnachdichtungen in Musik setzten. Das Kirchenlied habe Luther nicht erfunden, aber es textlich doch auf eine höhere Stufe gehoben, betont Küster: "Denn der Psalm kann als Gedicht viel leichter verinnerlicht werden. Die biblische Prosa auf Latein auswendig zu lernen, ist nicht unbedingt jedermanns Sache, aber bei einem gereimten Strophenlied in der Muttersprache ist das für viele Gläubige möglich."

Sänger des Dresdner Kreuzchores im Sinne der Reformation ausgebildet

Die Bedeutung, die Luther dem Kirchenlied als "Glaubensvermittler" zumisst, wirkt sich indirekt auf die Musikinstitutionen aus: Das evangelische Chorwesen blüht im 17. und 18. Jahrhundert geradezu auf. Doch nicht nur die Geschichte des Kirchenlieds wurde ausgeschmückt, sondern auch jene der lutherischen Musikinstitutionen. Deutlich macht das aktuell eine Ausstellung in der Sächsischen Landes-, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, die noch bis Februar zu sehen ist. Sie trägt den Titel: "800 Jahre Kreuzchor?" Ob der Chor tatsächlich im Jahr 1216 gegründet wurde, ist fraglich. Aber dass die Sänger im Sinne der Reformation seit 1539 ausgebildet wurden, ist zumindest belegt.

"Ohne Luther kein Bach" lautet ein Sprichwort. Doch inspirieren die Texte Luthers noch heute Komponisten? Der amtierende Kantor der Frauenkirche in Dresden, Matthias Grünert, komponierte zu Luthers "Christe Du Lamm Gottes" eine Motette: "Sie orientiert sich jedoch ausschließlich an der Motivik der berühmten Melodie und nicht am Textrhythmus." Die Melodik der Lutherlieder hat sich also verselbstständigt.

Das wird auch bei den aktuellen CD-Einspielungen hörbar. "Luther tanzt" lautet der Titel der Gruppe "The Playfords". Irisches Flötenspiel und mediterrane Tanzrhythmen werden mit Luthers "Steht auf ihre lieben Kindelein" unterlegt. Das wirkt ziemlich frisch und frech. Auch Luthers Begeisterung für das Lautenspiel fand schon 2015 eine Hommage: Julian Behr spielte Lautenvariationen zu "Nun treiben wir den Bapst hinaus" und "Nunnentanz" ein, begleitet vom Countertenor Franz Vitzthum.


Quelle:
KNA