Wie Virologen und Physiker zu den gefragtesten Beratern wurden

Corona, die Wissenschaftler und die Politik

Covid-19 hat das Leben aller auf den Kopf gestellt. Und es hat Personen ins Rampenlicht gerückt, die vorher dort selten zu sehen waren, zuvorderst Naturwissenschaftler unterschiedlicher Couleur. Auch die Kirche lud sie zum Gespräch.

Autor/in:
Anna Mertens
Prof. Dr. Hendrik Streeck sprach bei den "DomGedanken" in Münster / © Ann-Christin Ladermann (Bistum Münster)
Prof. Dr. Hendrik Streeck sprach bei den "DomGedanken" in Münster / © Ann-Christin Ladermann ( Bistum Münster )

Bundesverdienstkreuz, Treffen mit der Kanzlerin, regelmäßige Gespräche mit dem Bundesgesundheitsminister, unzählige Interviewanfragen: Deutschlands Virologen hätten sich wohl kaum träumen lassen, dass ihrer Zunft - unter den medizinischen Fachrichtungen eine der kleineren - plötzlich eine solche politische Beraterrolle zukommt.

Und die meisten hätten sich nicht träumen lassen, jemals mediale Angriffsfläche zu bieten oder gar für ihre Arbeit Morddrohungen zu erhalten. Doch Covid-19 hat auch hier vieles verändert.

Wo sonst - mit mehr oder weniger Erfolg und oft für dreistellige Millionenbeträge - Unternehmensberater hinzugezogen werden, sind es jetzt Forscher, die in der seit einem Jahr andauernden Pandemie als erste konsultiert werden - von Politik und Medien und das unentgeltlich. Andere gesellschaftliche Akteure wie Kirchen, Verbände oder Nichtregierungsorganisationen müssen sich vielfach darauf beschränken, beschlossene Maßnahmen umzusetzen.

Die sonst eher unter ferner liefen auftauchende Bundesbehörde Robert Koch-Institut (RKI) und ihr Präsident Lothar Wieler sind indes in aller Munde und liefern täglich die entscheidenden Zahlen: Wie viele Neuinfektionen gibt es, wie viele Menschen sind an Covid-19 gestorben, wie ist die sogenannte 7-Tage-Inzidenz und wo liegt der R-Wert, der besagt, wie viele Personen sich an einem Infizierten anstecken?

Es gibt nicht nur Drosten

Ähnlich präsent in Politik und Medien sind der der emeritierte Ulmer Virologe Thomas Mertens als Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko) - ein ehrenamtliches unabhängiges Beratergremium - sowie Klaus Cichutek als Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, des Bundesinstituts für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel. Der Berliner Virologe und gefragte Experte für Coronaviren, Christian Drosten, erhielt einerseits einen eigenen Nachrichten-Podcast und war andererseits einer medialen Kampagne ausgesetzt, die soweit ging, dass er nach eigenen Angaben Morddrohungen erhielt.

Neben medizinischen Experten haben Physiker und Mathematiker, die das voraussichtliche Infektionsgeschehen modellieren, als politische Berater eine neue Rolle gefunden. Darunter etwa der Physiker Dirk Brockmann, der an der Berliner Charite und am RKI arbeitet, oder Michael Meyer-Hermann vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Vom dortigen Helmholtz-Zentrum tritt auch immer wieder der Epidemiologe Gerard Krause in Erscheinung, der in führender Rolle während der EHEC-Krise 2011 am RKI tätig war.

Die Mehrheit der Berater bleibt männlich, aber auch Wissenschaftlerinnen sind gefragt, etwa die Virologinnen Melanie Brinkmann und Sandra Ciesek oder die Physikerin Viola Priesemann.

Letztere fordert seit seit Wochen einen viel härteren, international abgestimmten Kurs. Auch die Erfurter Psychologin Cornelia Betsch, die zu Impfskepsis forscht, berät die Regierung.

Vorrangig sind Naturwissenschaftler gefragt, aber auch der Deutsche Ethikrat und die dort angesiedelten Experten, darunter zahlreiche Theologen, treten immer wieder in Erscheinung. Bei der Impfpriorisierung, hinsichtlich möglicher Privilegien für Geimpfte oder mit Blick auf die heikle Triage-Frage war die Vorsitzende Alena Buyx bei zahlreichen Beratungen zugegen.

Wissenschaftler am Tisch der Entscheider

Kurzum, die Wissenschaft ist an den Tisch der Entscheider geladen. Für Bundeskanzlerin Angela Merkel als promovierte Physikerin sowie Kanzleramtschef Helge Braun (beide CDU) als promovierten Mediziner wohl eine erfreuliche Entwicklung. Zeichnen sich doch beide dadurch aus, dass sie ihr politisches Agieren gerne auf wissenschaftlichen Grundlagen fußen lassen.

Doch mit der Beraterrolle kommt auch der kritische Blick der Medien und der Öffentlichkeit. Wobei viele nicht zu verstehen scheinen, dass wissenschaftlicher Streit ein normaler und wichtiger Bestandteil der Wissenschaft ist. Aber es kommt auch eine für die Wissenschaft unübliche Geschwindigkeit hinzu. Während Forschung und deren Veröffentlichungen Monate, ja Jahre dauern, müssen die Experten nun außergewöhnlich schnell reagieren. Dem einen oder anderen fällt das sichtlich schwer.

Zuletzt wurde der Kanzlerin vorgeworfen, dass sie nur Berater um sich schare, die ihren harten Kurs verträten. Andere hingegen, etwa der Bonner Virologe Hendrik Streeck oder sein Hamburger Kollege Jonas Schmidt-Chanasit, traten zuletzt weniger in Erscheinung. Beide hatten mehrfach vor Folgen eines zu harten Lockdowns gewarnt.

Aus Merkels Sicht arbeitet, "jeder Wissenschaftler nach bestem Wissen und Gewissen", sie verfolge alle Meinungsbildungen, aber sie habe sich politisch gegen eine Tendenz zur Herdenimmunität entschieden. Letztlich bleibt es also dabei: die Wissenschaft berät, die Politik wird andernorts gemacht.


Christian Drosten / © Michael Kappeler (dpa)
Christian Drosten / © Michael Kappeler ( dpa )

Bundeskanzlerin Angela Merkel / © Michael Kappeler (dpa)
Bundeskanzlerin Angela Merkel / © Michael Kappeler ( dpa )

Kanzleramtschef Helge Braun / © Kay Nietfeld (dpa)
Kanzleramtschef Helge Braun / © Kay Nietfeld ( dpa )
Quelle:
KNA
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