DOMRADIO.DE: Haben Sie Ihre Gesprächsreihe "Trotzdem – ein Angebot für Menschen, die Kirche den Rücken gekehrt haben" ins Leben gerufen, weil es Sie schmerzt, so viele eigentlich engagierte und überzeugte Christinnen und Christen gehen zu sehen?
Sr. Philippa Rath (Benediktinerin der Abtei Sankt Hildegard): Ja, genau aus diesem Grund. Es gehen viele, die zum Teil lange engagiert waren, die enttäuscht und frustriert sind, denen aber ihr Glaube weiter wichtig ist. Aus meiner Beobachtung heraus ist das eine wachsende Zielgruppe. Diese Menschen möchten wir nicht links liegen lassen, sondern sie ansprechen und einladen. Wobei wir uns sowohl an Menschen wenden, die schon ausgetreten sind, als auch an solche, die noch mit dem Gedanken spielen.
Diejenigen, die schon dabei waren auszutreten, aber vorerst geblieben sind, sind in der Mehrheit. Sie sind sich unsicher, sie sind auf der Suche.
DOMRADIO.DE: Was können Sie Leuten bieten, die sich mit Austrittsgedanken tragen oder schon vollzogen haben?
Sr. Philippa: Wir bieten einen offenen Raum des Gesprächs, des Hörens und Zuhörens. In diesem Raum können sich Menschen miteinander vernetzen, die darüber nachdenken, aus der Kirche auszutreten oder die es bereits getan haben. Viele machen die Erfahrung, dass sie in den Gemeinden ausgegrenzt werden, wenn sie solche Austrittsgedanken öffentlich äußern oder den Schritt tatsächlich gehen. Insofern verstehen wir uns als eine Art Hebammen des Miteinanders und des ins Gespräch Kommens.
DOMRADIO.DE: Wie genau funktioniert das?
Sr. Philippa: Gemeinsam mit meiner Mitschwester Petra Knauer haben wir im Februar angefangen und für dieses Jahr jeweils ein Treffen im Monat geplant, zu dem die Interessierten sich per Mail anmelden. Das ist zunächst etwas zögerlich angelaufen, aber inzwischen hat sich eine Gruppe mit fünfzehn Personen gebildet und eine zweite mit weiteren fünf. Zu groß darf eine Gruppe nicht sein, damit sich jeder in Ruhe äußern kann. Es kommen immer wieder neue Teilnehmerinnen und Teilnehmer hinzu, weggegangen ist bis jetzt noch keiner. Ende des Jahres werden wir evaluieren, wie wir weitermachen.
DOMRADIO.DE: Wie läuft so ein Treffen denn ab?
Sr. Philippa: Das ist unterschiedlich. Bei den ersten Treffen haben sich die einzelnen Personen vorgestellt und teilweise sehr persönlich ihre Verletzungsgeschichten erzählt. Jeder hatte Zeit, sich mit seinen Problemen vorzustellen. So sind viele enttäuscht von der Kirche, weil sie den Missbrauch und dessen schleppende Aufarbeitung nicht mehr ertragen können. Oder Frauen fühlen sich nicht als gleichwertig angenommen.
In einem zweiten Schritt sind die Damen und Herren miteinander ins Gespräch gekommen. Je länger wir nun zusammen sind, desto mehr vertiefen sich die Gespräche und desto stärker fokussieren wir uns auch auf einzelne Themen. Beim Treffen rund um Pfingsten haben wir uns zum Beispiel über den Heiligen Geist ausgetauscht oder in der letzten Runde über unsere Vision von Kirche. Wenn neue Teilnehmende hinzukommen, dann bringen auch sie wieder ihre biografischen Erfahrungen ein.
DOMRADIO.DE: Würden Sie sagen, Sie haben da etwas angestoßen, auf das viele gewartet hatten?
Sr. Philippa: Das hoffe sich sehr. Die Nachfrage spricht eigentlich für sich. Denn wir haben überhaupt keine Werbung gemacht, sondern lediglich einen Flyer bei uns im Gästehaus und im Info-Raum ausgelegt. Es haben sich Menschen aus dem gesamten Rhein-Main-Gebiet gemeldet, aus insgesamt vier Diözesen. Sie nehmen zum Teil weite Wege in Kauf, weil diese Treffen ihnen wirklich ein Anliegen sind.
DOMRADIO.DE: Wie genau verstehen Sie Ihre Rolle bei den Treffen? Wollen Sie vor allem zuhören oder auch erklären, womöglich verteidigen?
Sr. Philippa: Verteidigen wollen wir sicher nicht. Wir verstehen uns eher als Moderatorinnen, wie gesagt, als eine Art von Hebammen, die die Menschen zusammen- und miteinander ins Gespräch bringen möchten. Darin sehe ich unsere Hauptaufgabe. Am Ende möchten wir eigentlich überflüssig werden. Es wäre schön, wenn die Gruppen sich dann selbst organisieren, wobei wir gerne Räume dafür zur Verfügung stellen könnten.
DOMRADIO.DE: Was ist Ihnen aufgefallen, warum wollen Menschen die Kirche verlassen? Gibt es da so etwas wie einen roten Faden?
Sr. Philippa: Einen solchen roten Faden gibt es tatsächlich. Die Menschen in unseren beiden Gruppen waren ausnahmslos lange in der Kirche aktiv. Es sind sehr engagierte Christinnen und Christen, denen ihr Christsein wirklich etwas bedeutet. Sie haben dann aber Enttäuschungen und Frustrationen aller Art erlebt. Wobei die Themen, die ich bereits nannte, die entscheidenden sind: das Missbrauchsthema, das Frauenthema, das Machtthema. Darunter haben manche so gelitten, dass sie das irgendwann nicht mehr stützen wollten. Viele überlegen dann ernsthaft, die Kirche zu verlassen.
DOMRADIO.DE: Sind die Betroffenen auch enttäuscht, weil in der Kirche meist gar nicht nachgefragt wird, warum sie gegangen sind oder in Erwägung ziehen zu gehen?
Sr. Philippa: Ich erinnere mich konkret an zwei Personen, die erzählt haben, dass wirklich niemand nachgefragt hat. In diesen Fällen haben die Priester nicht versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Sie wurden sogar von den anderen Gemeindemitgliedern, die sie zum Teil seit Jahrzehnten kannten, ausgegrenzt und gemobbt wurden. Das ist ein trauriges Thema. Es gibt einfach zu wenig Kommunikation an dieser Stelle. Deswegen hoffe ich, dass Gruppen wie unsere an möglichst vielen Orten entstehen.
DOMRADIO.DE: Sie wollen mit Ihrem Angebot auf gar keinen Fall missionieren, die Leute auch nicht beknien, doch bitte zurückzukommen. Denken dennoch manche der Teilnehmenden nach den Treffen darüber nach, einen Austritt rückgängig zu machen oder ihn gar nicht erst umzusetzen?
Sr. Philippa: Diejenigen, die schon ausgetreten sind, überlegen das eher nicht. Schließlich haben sie sich meist sehr lange mit dem Gedanken getragen und irgendwann den Schlusspunkt gesetzt. Aber die anderen, die der Kirche zwar innerlich bereits den Rücken gekehrt haben, aber noch offiziell Mitglied sind, schwanken durchaus. Sie greifen wirklich gerne, so nenne ich das, nach Hoffnungsstrohhalmen. Zum Beispiel sehen manche die Wahl unseres neuen Papstes als Hoffnungszeichen. Auch manches, was in unserer Kirche hierzulande dann doch an Aufarbeitung passiert, wird für viele zum versöhnlichen Zeichen. Ich glaube, dass die Gespräche, die wir führen, durchaus zu einem neuen Anker werden können.
DOMRADIO.DE: Wenn Sie gefragt werden, warum es sich allen Bedenken zum Trotz lohnt, weiter oder wieder Mitglied der katholischen Kirche zu sein, was antworten Sie?
Sr. Philippa: Ich rekurriere dann auf die Erfahrungen, die die Damen und Herren selbst gemacht haben. Wenn sie gegangen sind oder sich innerlich bereits verabschiedet haben, fühlen sie sich oft wie in einer Art von luftleerem Raum schwebend. Ihnen fehlt die Anbindung, die Beheimatung; denn Kirche ist immer auch ein Stück Heimat. Außerdem fehlen ihnen geistliche, spirituelle Anregungen.
Viele kommen deshalb noch einmal zurück, weil ihnen ihr Glaube viel bedeutet und sie Input brauchen. Das kann eine gute Predigt sein oder ein gutes Gespräch mit einem Christen, mit einer engagierten Christin. All das fehlt ihnen, wenn sie gehen. Das spüren doch viele und suchen wieder neu nach einer spirituellen Beheimatung.
DOMRADIO.DE: Kann Ihr Angebot zum Modell für andere werden?
Sr. Philippa: Es haben sich bereits zwei Ordensgemeinschaften bei uns gemeldet, die in ihrer Region ein analoges Angebot machen wollen: die Sießener Franziskanerinnen, die kürzlich eine Niederlassung in Dortmund gegründet haben, und zwei Ritaschwestern aus der Nähe von Würzburg.
Inzwischen sind auch die Medien aufmerksam geworden und sorgen dafür, dass sich der Gedanke verbreitet. Außerdem sind wir eingeladen, unser Angebot im nächsten Jahr beim Katholikentag in Würzburg vorzustellen. Das Schönste wäre, wenn daraus ein Netzwerk solcher Gesprächsgruppen in allen Diözesen entstehen würde.
Das Interview führte Hilde Regeniter.
Information der Redaktion: Nähere Informationen finden Sie auf der Homepage der Abtei St. Hildegard: https://abtei-st-hildegard.de/trotzdem-ein-angebot-fuer-menschen-die-der-kirche-den-ruecken-gekehrt-haben/