Wer aufarbeiten will, der muss es mit Betroffenen tun. Früher hat man ihre Stimmen außen vor gelassen. Mittlerweile ist die Betroffenenperspektive ein fester Bestandteil und ein Qualitätsmerkmal von kirchlichen Aufarbeitungskommissionen und Gremien. Gott sei Dank.
"Eine wichtige und vorrangige Stimme bei dem Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche sind die Personen, die selbst im Raum der Kirche sexuellen Missbrauch erlitten haben", heißt es etwa in der Präambel des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz. Die DBK und die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), also die verantwortliche Stelle bei der Bundesregierung, haben 2020 als Arbeitsgrundlage eine "Gemeinsame Erklärung" unterschrieben und sich dabei zu den Kriterien Unabhängigkeit, Transparenz und Partizipation von Betroffenen verpflichtet.
Vier Gründe, warum es so oft kracht
In der Praxis zeigen sich aber immer wieder Diskrepanzen, Kommunikationsprobleme, Enttäuschungen und interne Konflikte, die eine konstruktive Zusammenarbeit in Gremien, Beiräten oder Runden Tischen erschweren, manchmal sogar unmöglich machen. Woran könnte das liegen?
Erstens: Unterschiedliche Ziele
Die Aufarbeitung sexueller Gewalt in Kirche soll vergangenes Unrecht aufdecken und anerkennen. Die Zielsetzung ist damit eigentlich klar. Doch was ist, wenn Kirchenvertreter - ob bewusst oder unbewusst - ein Interesse daran hegen, das Ansehen der Institution zu schützen? Ein Umstand, der dazu führen kann, dass Aufarbeitung gebremst, verharmlost oder kontrolliert wird und in der Vergangenheit schon zahlreiche Geistliche zur Vertuschung bewogen hat.
Andersherum kann auch ein Betroffener sein Engagement in einem Gremium fälschlicherweise als Möglichkeit zur Aufarbeitung der eigenen, ohne jeden Zweifel traumatisierenden, Lebensgeschichte sehen. Folglich benötigen alle Beteiligten ein besonders hohes Maß an Selbstreflektion und dürfen ihre Position im Gremium nicht für ihre eigene Agenda nutzen.
Zweitens: Unterschiedliche Ausgangspunkte
Auf der einen Seite stehen Kirchenvertreter, die für die Institution sprechen und in kirchlichen Strukturen denken – häufig aus einer machtvollen Position des Systems heraus. Auch Entsandte der Landespolitik bringen bereits ein gewisses gesellschaftliches Standing mit und haben im Hintergrund Unterstützungsapparate wie Sekretariate oder Mitarbeitende.
Auf der anderen Seite stehen vulnerable Betroffene mit einer Gewaltbiografie, die in ihrem Leben häufig darum kämpfen mussten, ernst genommen zu werden und Gehör zu finden. Sie haben keinen eigenen Hierarchieapparat und arbeiten fast immer ehrenamtlich, meist noch neben einem Alltagsberuf. Eine Schieflage, die für viele Nicht-Betroffene oft schwer nachzuvollziehen ist.
Drittens: Entscheidungsgewalt
Ein neuralgischer Punkt in der Betroffenenbeteiligung ist die Frage, wie viel Mitspracherecht Betroffene haben sollen. Die partizipative Bandbreite reicht von der reinen Beratung bis hin zur Mitwirkung bzw. Mitentscheidung auf Augenhöhe. In diözesanen Aufarbeitungskommissionen sollen Betroffene ihre Perspektive einbringen und im Vorfeld geplanter Maßnahmen Vorschläge machen. Dabei sind die Betroffenen in der Minderheit und können von der Mehrheit überstimmt werden. Ob die Vorschläge am Ende umgesetzt werden, entscheidet am Ende außerdem das Bistum.
Das ungleiche Machtverhältnis nährt immer den Verdacht, dass es sich um eine simulierte Beteiligung handeln könnte, ein Feigenblatt. Genauso falsch wäre es andererseits, den Betroffenen, die ohnehin psychisch belastet sind, noch mehr Verantwortung für einen Aufarbeitungsprozess zuzumuten, den im Grunde die Kirche auszubaden hat.
Viertens: Strukturelle (Un)-Abhängigkeit
Aufarbeitung muss unabhängig von kirchlichen Strukturen passieren. Auf diversen Internetseiten der Bistümer heißt es über Aufarbeitungskommissionen, sie seien kein Teil kirchlicher Strukturen und arbeiteten weisungsfrei. Doch auch wenn eine Kommission ihre Angelegenheiten selbständig regelt, tragen die beteiligten Bistümer die Kosten.
Eine Aufwandsentschädigung ist richtig, aber wie unabhängig kann ein Gremium agieren, das von der Kirche selbst finanziert wird? Hinzu kommt, dass die Kontrolle über den Aufarbeitungsprozess bei der Institution liegt, die selbst Gegenstand der Untersuchung ist. Unabhängigkeit scheint ein dehnbarer Begriff zu sein.
Die Aufzählung moralischer Dilemmata ließe sich mühelos fortsetzen - von dem Risiko einer Retraumatisierung, über die Tatsache, dass Betroffene nie alle Betroffenen repräsentieren, bis zum Umgang mit der Öffentlichkeit. Überlegungen, die allesamt deutlich machen, wie komplex die Zusammenarbeit von Kirchenvertretern und Betroffenen in Gremien ist und spezielle Rahmenbedingungen erfordert.
Gelingensbedingungen, mit denen es besser laufen kann
Ein Rezept für eine gute Einbindung von Betroffenen gibt es nicht. Die UBSKM und die Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs arbeiten derzeit an einem Dialogprozess zu Standards der Betroffenenbeteiligung im Kontext institutioneller Aufarbeitung. Einige Faktoren, die die Zusammenarbeit begünstigen, lassen sich aber ausmachen.
Professionelles Auswahlverfahren
Einer der Knackpunkte ist das Auswahlverfahren zur Zusammensetzung der Gremien. Das Verfahren muss transparent gestaltet sein. Es darf zum Beispiel nicht sein, dass Verantwortliche in Bistümern Gespräche mit einzelnen Betroffenen führen, insbesondere mit solchen, die anpassungsfähig sind, und diese dann zur Mitwirkung in Betroffenengremien ermutigen.
Eine Vielfalt der Perspektiven setzt voraus, dass kirchennahe und kirchenferne Personen gleichermaßen vertreten sein dürfen, auch wenn sich das schwer überprüfen lässt. Hierbei ist auch auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis zu achten. Die Theologin Barbara Haslbeck, die zum Thema Religiösität nach Missbrauch forscht und zum Trägerteam der Initiative "GottesSuche – Glaube nach Gewalterfahrungen" (gottes-suche.de) gehört , beobachtet in den Betroffenengremien eine starke Repräsentation von Männern. "Frauen berichten häufig über Frusterfahrungen. Ihnen wird weniger zugetraut. Um als Opfer anerkannt zu werden, dürfen sie nicht durchsetzungsstark sein." Am schwierigsten sei die Anerkennung für Frauen, die als Erwachsene geschädigt wurden. Da gebe es unter Betroffenen Konflikte, "wer es "am Schlimmsten" hatte (Kind – erwachsen, Heimkind – Ministrant, Häufigkeit etc.)".
Empathie und Anstrengung
Karl Haucke, Mitglied im Betroffenenrat bei der UBSKM, betont die Relevanz von achtsamen Umgangsformen.

Schon die Wahl der Räumlichkeiten könne bei Betroffenen Elemente aus ihrer Gewaltbiografie triggern. "Wenn die Sitzung eines Aufarbeitungsgremiums beispielsweise in einem Kloster stattfindet - Sie haben eine Vorstellung von solchem architektonischen, ikonischen, olfaktorischen Umfeld -, dann sind diese Sicherheitsbedarfe nicht gedeckt." Dies sei ein winziges Beispiel dafür, warum Betroffene manchmal scheinbar unverständliche Forderungen vorbringen, warum sie kompliziert wirken. "Aber", betont der Betroffene, "wenn dafür keine Empathie vorhanden ist, wird es schwer."
Traumasensible Supervision
Barbara Haslbeck unterstreicht zudem die Wichtigkeit von professioneller Begleitung. "Immer wieder schildern mir Betroffene, dass sie in solchen Gremien mit Dominanzgebahren anderer Betroffener konfrontiert sind oder Retraumatisierung durch das unkontrollierte Erzählen von Missbrauchserfahrungen erleben. Das passiert besonders dann, wenn diese Gruppen wie eine Art Selbsthilfegruppe laufen, diese jedoch nicht supervisorisch und traumasensibel angeleitet ist."
Hingegen laufe es dann gut, "wenn Betroffene sich wechselseitig Autorität geben, wenn sie sich Einfühlung und Wertschätzung schenken können, wenn sie Diversität in den Erfahrungen zulassen können." Ausbildungskurse für Betroffenenbeteiligung und Mentoring- bzw. Patenprogramme für neu dazukommende Professionelle sowie Betroffene werden bislang nur stellenweise angeboten.