Wie die Kirche in Georgien mit der politischen Krise umgeht

"Ich werde kritisiert, angefeindet und beschimpft"

Seit der vergangenen Parlamentswahl im Oktober 2024 ist Georgien tief gespalten. Täglich kommt es in der Hauptstadt Tiflis zu Protesten. Wie positionieren sich die Kirchen des Landes im politischen Tauziehen zwischen Russland und EU?

Autor/in:
Elena Hong
Symbolbild Demonstrantinnen umhüllt von georgischen Fahnen / © Maikowl (shutterstock)
Symbolbild Demonstrantinnen umhüllt von georgischen Fahnen / © Maikowl ( shutterstock )

Menschen mit Plakaten, Trillerpfeifen und EU-Flaggen stehen in Gruppen vor dem georgischen Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Tbilisi (Tiflis). Die meisten sind maskiert. Um ihre Identität zu schützen, wegen der Kameras mit Gesichtserkennung. 

Was alle eint, ist der Wunsch zur EU zu gehören: "Ich kämpfe für meine Zukunft, für meine Rechte", sagt ein junger Mann, der versucht jeden Tag an den Kundgebungen teilzunehmen. "Wir fühlen uns in diesem Land nicht mehr sicher", erklärt eine andere Frau, "wir wollen Demokratie und fordern deshalb Neuwahlen". Im Oktober ging die Partei Georgischer Traum als Gewinner aus den Parlamentswahlen hervor. Der Wahlsieg ist aufgrund von Unregelmäßigkeiten umstritten und wird von der Opposition nicht anerkannt.

Demonstranten versammeln sich mit georgischen Nationalflaggen im Zentrum von Tiflis / © Zurab Tsertsvadze (dpa)
Demonstranten versammeln sich mit georgischen Nationalflaggen im Zentrum von Tiflis / © Zurab Tsertsvadze ( dpa )

Die Stimmung ist friedlich. Einige der Demonstrierenden tragen ein Kreuz um den Hals. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist orthodox. Georgien gilt als eines der frühesten christlichen Länder der Welt. Doch nicht alle sind derzeit gut auf die georgische orthodoxe Kirche zu sprechen. Denn sie gilt regierungsnah. Bereits bei früheren Wahlen stellten sich einige Kirchenvertreter öffentlich hinter die Partei Georgischer Traum. 

Gewaltvolle Eskalation im Winter

Kaschweti-Kriche am Boulevard Rustawelis Gamsiri / © Kharkhan Oleg (shutterstock)
Kaschweti-Kriche am Boulevard Rustawelis Gamsiri / © Kharkhan Oleg ( shutterstock )

Direkt gegenüber vom Parlamentsgebäude befindet sich ein repräsentativer Kuppelbau, die Kaschweti-Kirche. Studentin Tamuna Iluridze berichtet von tumultartigen Szenen: "Im Dezember wollten Demonstrierende nachts vor gewalttätigen Sicherheitskräften in die Kirche fliehen, aber die Priester verschlossen die Tür und ließen sie nicht hinein. Das passierte nicht nur einmal."  Allein während der Proteste im November und Dezember vergangenen Jahres wurden Berichten zufolge etwa 500 Demonstrierende festgenommen. Mehr als 300 Demonstrierende gaben an, körperlich misshandelt worden zu sein. Häufig erwarten die Demonstrierenden hohe Geldstrafen und unfaire Gerichtsverfahren. Die Georgische Vereinigung junger Juristen spricht gar von einer Menschenrechtskrise.

Mit der Einführung des Agentengesetzes wurde die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen und unabhängigen Medien massiv erschwert. Diese müssen sich als Agenten registrieren lassen, wenn sie mehr als 20 Prozent ihrer Einnahmen aus dem Ausland erhalten. Dann gilt es selbst sensible Daten offenzulegen. Ein Gesetz, das offiziell für mehr Transparenz sorgen soll. In Ländern wie Russland dient es aber dazu, kritische Stimmen mundtot zu machen.

Einzelne Priester bei Protesten

Einige Bilder von verletzten Demonstranten hängen im Flur von Zaza Tevzadze – oder wie er von den meisten genannt wird: Pater Zaza. Der 66-Jährige wohnt zusammen mit seiner Frau in einem Hochhaus inmitten der Stadt und ist einer der wenigen Priester, der regelmäßig an den Protestkundgebungen teilnimmt, sofern sein Gesundheitszustand es zulässt: "Auf der Demo zu sein, sehe ich als meine Pflicht an. Denn wenn wir diese Chance verpassen, verpassen wir die Chance auf einen Rechtsstaat und wir werden ein demografisches Problem bekommen. Viele Menschen haben Georgien schon verlassen." Auch er sieht die aktuelle Regierung nicht als legitim an: "Sie wollen, dass wir uns von Europa isolieren".

Zaza Tevzadze, orthodoxer Priester in Tbilisi (Tiflis) / © Elena Hong (DR)
Zaza Tevzadze, orthodoxer Priester in Tbilisi (Tiflis) / © Elena Hong ( DR )

Der orthodoxe Priester bekundet immer wieder öffentlich seine Solidarität mit der Ukraine. Er verweist auf den immensen Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche, die er als Werkzeug Putins bezeichnet. "Die russisch-orthodoxe Kirche unterstützt den Imperialismus und wettert gegen den gottlosen Westen. Die Welt müsse vor ihnen gerettet werden. Das ist russische Demagogie." Auch georgische Priester würden diese ideologischen Ideen verbreiten. Nur einzelne Pfarrer stellten sich dagegen. 

Kirche und Staat profitieren voneinander

Für seinen Einsatz für Menschenrechte und seine pro-europäischen Statements erfährt Zaza viel Gegenwind, sagt er, auch aus den eigenen Reihen: "Ich werde von anderen Pfarrern kritisiert, angefeindet und beschimpft. Sie verbreiten Lügen über mich und wollen mich kleinkriegen."

Der Sitz des orthodoxen Patriarchats in der georgischen Hauptstadt Tbilisi (Tiflis) / © Elena Hong (DR)
Der Sitz des orthodoxen Patriarchats in der georgischen Hauptstadt Tbilisi (Tiflis) / © Elena Hong ( DR )

Tamara Grdzelidze unterrichtet Religionswissenschaft an der Ilia-Universität in Tbilissi. Die Professorin beobachtet das Verhalten der georgischen orthodoxen Kirche in der Öffentlichkeit genau und glaubt, dass die Institution mehrheitlich hinter der Regierung steht. "Natürlich spricht das Patriarchat nicht mit einer Stimme. Aber 98 Prozent der Statements, die von der Pressestelle veröffentlicht werden, unterstützen die aktuelle Regierungspartei. Das drückt sich nicht nur mit Worten aus, sondern zum Beispiel auch durch die Anwesenheit hochrangiger Kirchenvertreter im Parlament bei wichtigen Anlässen." Die Allianz zwischen Staat und Kirche sei offensichtlich, so die Forscherin. 

Kampfthemen: Familie und Nation

Kurz nach der Wahl veröffentlichte der Heilige Synod der georgischen orthodoxen Kirche eine offizielle Erklärung. Darin befürwortete die Kirchenleitung die Partei Georgischer Traum, berief sich aber gleichzeitig auf politische Neutralität. Wörtlich hieß es: "Wir werden jede Entscheidung unterstützen, die Georgien langfristig Frieden bringt und Werte stärkt, die christliche und familiäre Traditionen fördern".

Der Schutz der heiligen Familie – ein Ziel, in dem sich die orthodoxe Kirche und die Regierungspartei Georgischer Traum offenbar verbündet sehen. Im vergangenen Jahr forderte die Kirche ein Verbot von queerer Propaganda. Im Herbst wurde das Gesetz zum "Schutz von Familienwerten und Minderjährigen" verabschiedet. 

Über 80 Prozent Orthodoxe

Der christliche Glauben spielt in Georgien eine große Rolle / © Elena Hong (DR)
Der christliche Glauben spielt in Georgien eine große Rolle / © Elena Hong ( DR )

Insgesamt gehört die georgische orthodoxe Kirche zu den einflussreichsten Institutionen des Landes. An ihrer Spitze steht Patriarch Ilia Shiolashvili, alias Ilia II. Der 92-Jährige ist beliebt, zählt laut Meinungsumfragen zu den vertrauenswürdigsten Personen in der Öffentlichkeit. Die sonntäglichen Gottesdienste sind gut besucht.

Die orthodoxe Kirche gehört zu den einflussreichsten Institutionen des Landes / © Elena Hong (DR)
Die orthodoxe Kirche gehört zu den einflussreichsten Institutionen des Landes / © Elena Hong ( DR )

Orthodoxie ist in Georgien zwar nicht Staatsreligion, jedoch genießt die orthodoxe Kirche in Georgien Ansehen und auch finanzielle Vorteile, erklärt die Religionswissenschaftlerin Tamara Grdzelidze: "Die Kirche erhält einen millionenschweren Haushaltsetat vom Staat. Sie kann Grundstücke für einen symbolischen Betrag von nur einem Lari (Landeswährung) kaufen. Natürlich muss sie keine Steuern zahlen. Die Regierung profitiert wiederum, weil die Kirche ihre politische Agenda an die Gläubigen weitergibt." Und weil die Kirche zum georgischen Nationalgefühl beiträgt. 

Der Vize-Außenminister Giorgi Zurabashvili beschreibt ihre Rolle so: "Die Aufgabe der Kirche ist es, für Frieden und Stabilität zu sorgen und dafür zu beten. Ich erwarte, dass sie diese Rolle auch in Zukunft erfüllt. Denn christliche Werte gehören zu unserer Identität."

Katholischer Botschafter äußert sich zurückhaltend

Reagiert die orthodoxe Kirche deshalb nur mit "Besorgnis" auf Fälle, in denen Demonstranten verprügelt, gefoltert und beleidigt wurden? Warum fordert sie nicht die Freilassung der politischen Gefangenen? Kirchenvertreter halten sich gegenüber westlichen Medien lieber bedeckt – nicht nur Vertreter der orthodoxen Kirche. Auch der Botschafter des Vatikans, Nuntius Ante Jozic, äußert sich zurückhaltend in Bezug auf die römisch-katholische Kirche. In Georgien stellt diese eine Minderheit dar: "Der Standpunkt des Heiligen Stuhls ist, dass die Anliegen der Demonstranten auf der Straße Gehör finden sollen. Lösungen müssen friedlich und ohne Gewalt erarbeitet werden, durch offenen Dialog."

Apostolischer Nuntius Erzbischof Ante Jozic / © Elena Hong (DR)
Apostolischer Nuntius Erzbischof Ante Jozic / © Elena Hong ( DR )

Katholische Priester sollten laut dem Nuntius neutral bleiben und nicht an den Demonstrationen teilnehmen. "Wenn der Priester auf der Kanzel eine politische Partei unterstützt, was passiert dann? Nicht alle Bürger sind der gleichen Meinung. Nicht alle Gläubigen denken das Gleiche. Die einen unterstützen den Kurs der Regierung, andere wiederum sind dagegen. Wenn der Priester sich also öffentlich positioniert, spaltet er die Gläubigen." Der Vatikan-Vertreter verweist zudem auf die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland, die sich wegen der gemeinsamen Landesgrenze kaum verhindern lässt: "Wer näher dran ist, gewinnt."

Geopolitische Lage als Zwickmühle

Tatsächlich stellt die geopolitische Lage Georgiens eine Zwickmühle dar. Geschichtlich, kulturell und religionspolitisch unterstand Georgien jahrhundertelang Einfluss des russischen Nachbarn, zuletzt in der Sowjetunion bis 1991. Noch heute gilt Russland wegen der gemeinsamen Grenze als wichtiger Importeur georgischer Waren und lockt mit Einnahmemöglichkeiten, denn die Arbeitslosenquote in Georgien ist hoch. Eine armenische Katholikin, die lieber anonym bleiben möchte, hat die Partei Georgischer Traum gewählt, obwohl in ihrem Bekanntenkreis viele eher pro-europäisch eingestellt sind. "Ich spreche Russisch im Alltag und habe damit kein Problem. Viele meiner Landsleute gehen nach Russland, um dort Geld zu verdienen. Ich habe auch Verwandte dort drüben. Warum sollten sie Russland also kritisieren? Sie würden niemals sagen, dass Russland ein aggressives Land ist."

Eindrücke aus der georgischen Hauptstadt Tiflis im Früjahr 2025 / © Elena Hong (DR)
Eindrücke aus der georgischen Hauptstadt Tiflis im Früjahr 2025 / © Elena Hong ( DR )

Doch das Trauma der gewalttätigen Vergangenheit steckt vielen Georgiern noch in den Knochen. Und so ist die Angst vor einem neuen Krieg allgegenwärtig. Seit 2008 kontrollieren russische Soldaten bereits ein Fünftel des georgischen Territoriums: die abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien. Ein Konflikt, bei dem der Westen zurückhaltend blieb. Dass er im Falle eines erneuten Angriffs helfen würde, glauben viele nicht. Zumal die Chancen für einen EU-Beitritt schlecht stehen. 2023 verlor das Land seinen Status als Beitrittskandidat. Ende November verkündete der Georgische Traum die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen bis 2028, und das, obwohl die Integration in die EU sogar in der Verfassung verankert ist. All diese Verwicklungen zeigen, wie gespalten das Land im Südkaukasus derzeit ist. Als einzige Option des Widerstands scheint nur der Protest zu bleiben. 

Dieser Text entstand während einer Reise mit dem Osteuropahilfswerk Renovabis.

Religion und Kirche in Georgien

Georgien ist ein Staat in Vorderasien am Schwarzen Meer südlich des Kaukasus mit rund 4,9 Millionen Einwohnern. Die Hauptstadt Tiflis liegt auf demselben Breitengrad wie Rom. 1918 erklärte sich Georgien erstmals für unabhängig. 1922 wurde es ein Teil der Sowjetunion, 1991 wieder unabhängig. Georgien ist eine parlamentarische Demokratie. 

Blick auf Georgiens Hauptstadt Tiflis / © Markus Nowak (KNA)
Blick auf Georgiens Hauptstadt Tiflis / © Markus Nowak ( KNA )
Quelle:
DR

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