Wie die 68er-Bewegung die Theologie veränderte

"Ratzinger sprengte alte Denkschablonen auf"

Vor 50 Jahren, am 11. April 1968, wurde dem Studentenführer Rudi Dutschke in Berlin in den Kopf geschossen. Dutschke war eine Ikone der Studentenbewegung 1968. Eine Bewegung, die auch Einfluss auf die Theologie hatte. 

Teilnehmer des Ostermarsches demonstrieren nach dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968 / © Reiss (dpa)
Teilnehmer des Ostermarsches demonstrieren nach dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968 / © Reiss ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie wurden 1967 zum Priester geweiht. Wie haben Sie die Zeit miterlebt, das Attentat auf Dutschke, aber auch die gesamte 68er-Bewegung?

Monsignore Prof. Dr. Wolfgang Bretschneider (Theologe und Kirchenmusiker aus Bonn): Das war schon ein Schock und wir hatten den Eindruck, das ist nun ein Signal für eine Umwälzung und für Unruhen, die damit nun Deutschland erreicht hatten. Es begann damals in Frankreich mit den Jugend- und Studentenrevolten, die schwappten dann nach Berlin über und kamen in Köln und Bonn an, wo ich es selbst beim sogenannten Rathaussturm, am Bonner Rathaus, miterlebt habe. 

DOMRADIO.DE: Welche Folgen hatte die Bewegung für die Kirche und die Theologie damals?

Bretschneider: Die Bewegung und ihre Folgen setzten schon vor 1968 ein. Sie begann mit unserem Studium in Bonn, vor allem natürlich durch das Zweite Vatikanische Konzil. In Bonn standen wir ganz unter dem Eindruck eines jungen neuen Theologen, der gerade aus Freising gekommen war. Sein Name war Josef Ratzinger, der spätere Papst Benedikt, und das war für uns damals eine Revolution gewesen. Denn er brachte Dinge, die wir so noch nie gehört hatten. Er brachte es fertig, alte Denkschablonen aufzusprengen.

Ich mach es mal an einem Beispiel deutlich: Gottesdienst. Wir hatten natürlich in der Schule gelernt, Gottesdienst heißt, der Mensch hat Gott zu dienen. Und da sagte Josef Ratzinger, das ist nicht das christliche Verständnis, sondern das christliche Verständnis ist, Gott dient den Menschen. Das ist das Primäre. Und dann hat natürlich der Mensch auch Gott zu dienen, in der Weise der Fußwaschungen. Das war für uns wirklich revolutionär und löste auch viele Bewegungen aus, viele Umbrüche, neues Denken, letztlich ein befreites Denken. 

DOMRADIO.DE: Sie haben unter Josef Ratzinger Theologie studiert. Wie hat Sie selbst diese Bewegung, dieses Denken, beeinflusst?

Bretschneider: Es war schon im Zuge einer neuen Freiheit, das Aufsprengen von verkrusteten Formen, Institutionen, Organisationen und es war zunächst mal eine Bestätigung dessen, was sich auch innerhalb der Kirche vollzogen hatte. Bestätigt durch die grandiosen Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils.

DOMRADIO.DE: Was ist von der Bewegung geblieben? Was hat sich durch die 68er für Kirche und Theologie bis heute verändert? 

Bretschneider: Ich denke schon, es ist ein neues Denken geblieben, ein befreites Denken. Ein Denken ohne Schablonen. Sagen wir mal so, wir waren damals elektrisiert und fasziniert. Wir haben gedacht, jetzt beginnt etwas ganz neues. Es beginnt ein neuer Frühling, die Kirche erwacht in den Seelen – wie es ja schon länger hieß – und das erleben wir mit. Da können wir mitgestalten, jetzt macht sich der Heilige Geist bemerkbar. Wir werden vom Geist Gottes ergriffen und jetzt werden die Kirchen vielleicht wieder voll und wir erleben sowas wie im Urchristentum. Das war unsere Idee.

Davon waren wir begeistert und fasziniert, wir mussten natürlich erkennen, so einfach ist es auch nicht. Und die Jahrzehnte danach haben eben auch gezeigt, so lief es nicht ab. Ich habe mich immer erinnert gefühlt an ein Zitat von Kardinal Volk, ehemaliger Mainzer Bischof, der in Bezug auf die Liturgie mal sagte: "Heute wollen viele mehr als sie dürfen, aber schon morgen werden schon viele mehr dürfen als sie können". Und das haben wir erfahren, zum Teil auch schmerzlich erfahren.

Das Gespräch führte Siliva Ochlast. 


Quelle:
DR