Forscher sehen nicht nur die Pandemie als Ursache für Einsamkeit

Wenn die Einsamkeit um sich greift

Ständig mittendrin und trotzdem vereinzelt - laut Experten ist daraus ein Lebensgefühl geworden. Lebt der moderne Mensch im "Zeitalter der Einsamkeit"? Umfragen zufolge betrifft das Thema jedenfalls immer mehr Personen.

Autor/in:
Paula Konersmann
Symbolbild Einsamkeit / © fizkes (shutterstock)

"It's lonely out in space", singt Elton John in einem seiner bekanntesten Songs: "Rocket man, burning out his fuse up here alone". Diese Vereinzelung betrifft heute viele. Das Gemeinwesen splittere sich zusehends auf, der Mensch werde "zu einem abgenabelten Argonauten, der in seiner Raumkapsel durch die Neerströme der Moderne irrt", schreibt die CDU-Politikerin und Publizistin Diana Kinnert in ihrem Buch "Die neue Einsamkeit".

Corona-Krise erhöht laut Umfrage Häufigkeit von Einsamkeitsgefühlen

Während der Corona-Krise hat sich die Häufigkeit von Einsamkeitsgefühlen unter EU-Bürgern verdoppelt, wie kürzlich eine Umfrage ergab. Hatten 2016 noch 12 Prozent der EU-Bürger angegeben, sich mehr als die Hälfte der Zeit einsam zu fühlen, so stieg dieser Anteil in den ersten Monaten der Pandemie auf 25 Prozent. Doch nicht erst die Pandemie hat Einsamkeit zum Thema gemacht. So gründete die britische Regierung schon im Januar 2018 ein Ministerium gegen Einsamkeit.

Lange vor Corona sei das Thema in der Telefonseelsorge sehr präsent gewesen, sagt auch Peter Brockmann. Verstärkt brächten es nun jüngere Menschen zur Sprache: "Manche Studentinnen und Studenten sind nun im dritten Semester, haben aber noch nie eine Uni betreten", kritisiert der Leiter der Bremer Telefonseelsorge. Das gesamte Sozialleben junger Leute sei während der Pandemie erheblich eingeschränkt worden - und die Suche nach Alternativen oftmals eher halbherzig erfolgt.

Bindekräfte lassen nach

Auch andere Faktoren begünstigen Einsamkeit. "Wir beobachten das Thema seit Tag 1, und durch Corona verstärkt", sagt die Gründerin der seit sechs Jahren bestehenden Nachbarschaftsplattform nebenan.de, Ina Remmers. In den vergangenen 20 Jahren hätten sich die Menschen zunehmend digital vernetzt. Dies führe auch dazu, dass man sich trotz "scheinbar unendlicher Möglichkeiten" häufig nur in Gruppen Gleichgesinnter austausche. Eine Nachbarschaft sei dagegen zumeist eine Zufallsgemeinschaft, in der Menschen lernen könnten, andere Meinungen und Positionen auszuhalten.

Doch die Bindekräfte lassen nach: zum Geburts- oder Wohnort, zu Parteien, Vereinen oder der Kirche. Mit der Angehörigkeit zu einer konfessionellen Gemeinschaft identifizierten sich die meisten heute "für die Dauer eines Weihnachtsgottesdienstes", schreibt Martin Hecht in seinem Buch "Die Einsamkeit des modernen Menschen". Diese habe eine neue Qualität: Es gehe weniger um das Gefühl des Mangels, den Eindruck, "mutterseelenallein, menschen- und gottverlassen zu sein", sondern um Vereinzelung als kollektive Erfahrung. "Sie ist die Folge der modernen Lebensart, der globalen Entwurzelung und Heimatlosigkeit."

Individuelles Erleben als entscheidendes Kriterium

Kinnert bezeichnet diese Entwicklung als "Pippi-Langstrumpf-Syndrom 3.0: Wir alle machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Jeder allein für sich." Wer darunter leide, verschweige dies eher: "Es ist nicht sexy, sondern irgendwie peinlich, weil es soziale Inkompetenz signalisiert."

Dabei sei das individuelle Erleben das entscheidende Kriterium, meint Brockmann. Auch Menschen, die augenscheinlich sehr gut eingebunden seien, könnten sich einsam fühlen. Manche riefen regelmäßig die Telefonseelsorge an, um sich im Gespräch im wahrsten Sinne des Wortes "verbunden" zu fühlen. Andere kämen erst im späteren Verlauf eines Telefonats auf das Thema, das "mit einem gewissen Makel" verbunden sei.

Eine grundsätzliche Pathologisierung des Themas lehnt der evangelische Pastor indes ab. "Einsamkeit kann auch eine Ressource sein", betont er. Manche Debatte klinge ihm allzu alarmistisch. Zugleich seien Tipps für den Einzelnen rasch bei der Hand - dabei müssten sich auch gesellschaftliche Bedingungen ändern, mahnt Brockmann. Wer im Schichtdienst arbeite, habe es de facto schwer, sich in bestehende Vereins- oder Gemeindestrukturen einzubringen, wer in einem Dorf ohne öffentlichen Nahverkehr wohne, müsse mehr investieren, um sich in größeren Initiativen zu engagieren.

Gesellschaft und Individuum

Kinnert kritisiert, dass die konsumorientierte Gesellschaft dem Einzelnen hier zu wenig Spielraum lasse. Der Mensch müsse heutzutage "dehnbar sein, beweglich und alternativgeil", schreibt sie. "Jede Festlegung gerät zum Nachteil, jedes Bindungsversprechen führt zum Stottern im Getriebe." Die Konsequenzen, zu denen eben auch wachsende Einsamkeit zähle, blieben oftmals im Dunkeln.

Wozu es führt, wenn die Gesellschaft kollektive Bezugspunkte wie Nachrichten verliert oder Verabredungen kaum noch verbindlich getroffen werden, sondern jederzeit spontan wieder abgesagt werden können - das beschreiben Forscher inzwischen als "Atomisierung". Auch der Bezug zu den eigenen Sinnen oder zu Formen von Spiritualität seien "weitflächig zertrümmert" worden, so Kinnert. Dabei entspreche es dem Menschen nicht, "ohne eine grundsätzliche Gewissheit, ohne einen halbwegs verlässlichen Wertekompass in die Zukunft zu steuern." Der Neoliberalismus, die global vernetzte Welt und Wirtschaft hätten dieses "menschliche Maß" verloren.

Menschheit vor einer "Epochenzäsur"?

Manche Wissenschaftler sehen die Menschheit vor einer "Epochenzäsur". Was also bleibt dem Einzelnen, auch angesichts disruptiver Entwicklungen wie der Digitalisierung oder dem Klimawandel? Hecht betont, der moderne Mensch sei zwar individualistisch, aber "nicht der Egoist, zu dem ihn der Kapitalismus machen will". Dies zeige beispielsweise die Solidarität angesichts von Naturkatastrophen, aber auch die Teilnahme an Demonstrationen für den Klimaschutz oder gegen Diskriminierung.

Kinnert fordert mehr Raum für die Entfaltung dieser Menschlichkeit. Konkret könne das bedeuten, mehr Grünflächen und Orte für Begegnungen zu schaffen. Zugleich sei ein Umdenken erforderlich, das etwa Gefühlen von Verletzlichkeit mehr Raum gebe. "Was", fragt die Autorin, "ist so peinlich daran, Sehnsucht zu verpassen? Nicht zufrieden zu sein, sondern traurig?" Es brauche "Mut zur Nichtlinearität, zur Nichtglätte, zur Ineffizienz".

Brockmann wirbt zudem dafür, Angebote wieder aufzunehmen, die während der Pandemie abgebrochen seien. Hier seien auch die Kirchen gefragt - neben dem Sonntagsgottesdienst, der für viele auch ein Begegnungsraum sei, beispielsweise mit Kreativkursen, Chören oder Gemeinde-Ausflügen. "Das ist ein Super-Netzwerk."


Quelle:
KNA