Welthungerhilfe-Präsidentin über den Kampf gegen Krisen

"Was sich im Jemen abspielt, ist eine politische Tragödie"

Marlehn Thieme, Chefin der Welthungerhilfe, spricht über den Kampf gegen den Klimawandel und den Konflikt im Jemen. "Wir dürfen diese Menschen nicht allein lassen", sagt sie im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur.

 Eine Frau hält ein unterernährtes Kind in einem Krankenhaus in der Provinz Hadscha. / © Mohammed Mohammed (dpa)
Eine Frau hält ein unterernährtes Kind in einem Krankenhaus in der Provinz Hadscha. / © Mohammed Mohammed ( dpa )

KNA: Frau Thieme, Sie sind in der evangelischen Kirche aktiv und leiten unter anderem den Rat für Nachhaltige Entwicklung - was nehmen Sie daraus für ihr neues Amt als Präsidentin der Welthungerhilfe mit?

Marlehn Thieme (Präsidentin der Welthungerhilfe): Zunächst einmal die Motivation, mich für den Nächsten zu engagieren. Das ist ja eine Kernbotschaft des Christentums. Beim Rat für Nachhaltige Entwicklung geht es ganz konkret um Kontakte zu Politik, Unternehmen und der Finanzbranche. Die dort aufgebauten Kontakte will ich auch für die Welthungerhilfe nutzen.

KNA: In letzter Zeit nimmt die Kritik am Kapitalismus zu - brauchen wir eine andere Form des Wirtschaftens, damit es gerechter zugeht auf der Welt?

Thieme: Hunger und Not haben nicht nur etwas mit der Wirtschaft zu tun, sondern sind oft auch direkte Folgen von Kriegen und Konflikten in den Ländern selbst. Davon abgesehen: Welche tatsächlichen Alternativen zum Kapitalismus gibt es? Planwirtschaft, das lehrt uns die Vergangenheit, fällt schon einmal weg. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass der autoritäre Kurs, den Länder wie China fahren, zum Ziel führt.

KNA: Also kein Änderungsbedarf?

Thieme: Doch. Es geht aber darum, die Weltwirtschaft so zu gestalten, dass die Globalisierung einen richtigen Rahmen erhält.

KNA: Wie könnte dieser Rahmen aussehen?

Thieme: Es bräuchte deutlich mehr verbindliche Standards für faires und umweltbewusstes Wirtschaften, als das bislang der Fall ist: angefangen bei einzelnen Unternehmen über ganze Sektoren wie Industrie, Landwirtschaft und Finanzmärkte bis hin zur Gesetzgebung auf nationaler Ebene und zu international gültigen Vereinbarungen.

Die Globalisierung in einen Wettbewerb zum Guten zu wenden, lautet die Herausforderung. Dafür müssen wir auch die Regierungen in die Pflicht nehmen.

KNA: Der Weltklimagipfel in Kattowitz zeigt gerade, wie schwer es ist, auf internationaler Ebene einen Konsens zu finden.

Thieme: Die Ankündigung der USA, aus dem Klimaabkommen auszusteigen, hat die Sache nicht einfacher gemacht. Hinzu kommt, dass andere wichtige Akteure beim Klimaschutz schwächeln. In Großbritannien überlagert der Brexit derzeit sämtliche Debatten, in Frankreich gehen die Menschen gegen Präsident Emmanuel Macron auf die Straßen. Und China plant den Bau neuer Kohlekraftwerke, um die Wirtschaft anzukurbeln.

KNA: Das bedeutet noch mehr Treibhausgase in der Atmosphäre.

Thieme: Dabei wäre es an den Industrie- und Schwellenländern zu zeigen, dass es funktioniert, bis 2020 den CO2-Ausstoß signifikant zu reduzieren. Uns bleiben noch zweieinhalb Jahre! Bis dahin, so hat es das Umweltprogramm der Vereinten Nationen Unep errechnet, müssten diese Länder ihre Anstrengungen verdreifachen, um die Vorgaben des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Darüber hinaus bräuchten wir dringend eine Strategie, mit der sich Klimaschutzmaßnahmen und Anpassungsprogramme in den Entwicklungsländern finanzieren lassen.

KNA: Inwieweit spielen die Folgen des Klimawandels schon jetzt eine Rolle für die Arbeit der Welthungerhilfe?

Thieme: Viele Länder leiden unter Ernteeinbußen infolge von Dürren oder Überschwemmungen. Gerade in armen Staaten sind kaum Kapazitäten vorhanden, um die entstandenen Verluste wieder wettzumachen und die Ernährung der Bewohner sicherzustellen. Die Flächen, auf denen Menschen siedeln können, werden kleiner und die Erträge nehmen ab.

Dadurch entstehen neue Konflikte. Gleichzeitig leiden internationale Organisationen wie das Welternährungsprogramm WFP unter chronischer Unterfinanzierung.

KNA: Das zeigt sich in Krisenherden wie Syrien. Mit Blick auf den Jemen spricht die Welthungerhilfe von einer der "schlimmsten humanitären Katastrophen der letzten Jahrzehnte".

Thieme: Was sich im Jemen abspielt, ist eine politische Tragödie. Tag für Tag stehen dort 16 Millionen Kinder, Frauen und Männer hungrig auf. Wir dürfen diese Menschen nicht allein lassen. Ich bin sehr dankbar, dass es dort Helfer gibt, die - unter teils unsäglichen Bedingungen - versuchen, die Not zu lindern.

KNA: Braucht es angesichts solcher und ähnlicher Herausforderungen eine noch intensivere Vernetzung der deutschen Hilfsorganisationen?

Thieme: Mit dem Dachverband Venro haben wir auf politischer Ebene ein gemeinsames Sprachrohr. Auf jeden Fall ist es sinnvoll, sich abzustimmen, damit nicht alle an den gleichen Orten arbeiten. Aber das funktioniert eigentlich ganz gut. Und ich halte es für sinnvoll, wenn jede Organisation ihre Stärken in ihren jeweiligen Einsatzgebieten einbringt. Dazu gibt es, leider, genug Krisen und Missstände auf der Welt.

Seit Ende November ist Marlehn Thieme Präsidentin der Welthungerhilfe. Lange Jahre arbeitete die 61-jährige Juristin bei der Deutschen Bank. Seit 2013 leitet sie den von der Bundesregierung berufenen Rat für Nachhaltige Entwicklung. Darüber hinaus ist sie Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Vorsitzende des ZDF-Fernsehrates. Keine schlechten Voraussetzungen, um die Anliegen einer der größten privaten Hilfsorganisationen in Deutschland in die Öffentlichkeit zu tragen.


Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe / © Harald Oppitz (KNA)
Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe / © Harald Oppitz ( KNA )

Logo der deutschen Welthungerhilfe / © Sabine Schüller (KNA)
Logo der deutschen Welthungerhilfe / © Sabine Schüller ( KNA )

Mitarbeiter der deutsche Welthungerhilfe bereiten Hilfslieferungen vor / © KNA-Bild (KNA)
Mitarbeiter der deutsche Welthungerhilfe bereiten Hilfslieferungen vor / © KNA-Bild ( KNA )
Quelle:
KNA