Bundeskanzler Friedrich Merz erklärte kürzlich: "Diejenigen, die aus der muslimischen Welt zu uns kommen, (...) mögen bitte daran denken, dass wir ein laizistischer Staat sind, dass wir hier eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche haben". Das ist allerdings inhaltlich nicht zutreffend. Deutschland ist zwar ein säkularer Staat, jedoch kein laizistischer. Der Unterschied ist grundlegend.
Laizismus beschreibt eine Form der Staatlichkeit, in der Religion und Staat strikt voneinander getrennt sind - rechtlich, institutionell und symbolisch. Deutschland hingegen folgt einem Kooperationsmodell, in dem Staat und Religionsgemeinschaften rechtlich getrennt sind. In bestimmten Bereichen aber sind sie strukturell miteinander verbunden.
Historische Entwicklung
Das Verhältnis von Kirche und Staat ist historisch gewachsen und hat sich im Laufe der Jahrhunderte vielfach gewandelt. Laut Zweitem Vatikanischen Konzil (1962-1965) sowie dem geltenden Kirchenrecht nimmt die katholische Kirche für sich in Anspruch, immer und überall den Glauben frei zu verkünden, ihre Soziallehre kund zu machen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, sofern grundlegende Rechte oder das Seelenheil der Menschen betroffen sind.
Biblische Grundlage
In biblischer Perspektive kann staatliche Gewalt als göttlich legitimiert verstanden werden. Dennoch gebührt dem Göttlichen stets der Vorrang vor dem Weltlichen. In der frühen Kirchengeschichte lebten christliche Gemeinden daher in deutlicher Abgrenzung zum heidnischen Staat, dessen Herrscher sich oft göttliche Attribute zuschrieben. Mit der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion unter Kaiser Theodosius im Jahr 380 änderte sich dieses Verhältnis grundlegend: Kirche und Staat wurden institutionell und politisch miteinander verflochten.
Bischöfe übernahmen staatliche Verwaltungsaufgaben, Kaiser nahmen Einfluss auf kirchliche Belange – eine enge religiös-politische Einheit entstand. Diese Nähe führte zu Spannungen, etwa hinsichtlich der Frage, wer in religiösen Belangen die Autorität innehat. Während sich in der Ostkirche die Kirche der kaiserlichen Gewalt unterordnete, entwickelte sich im Westen das Streben nach religiöser Autonomie.
Trennung von imperium und sacerdotium
Im Hochmittelalter kam es zur Unterscheidung zweier Gewalten innerhalb eines christlich geprägten Staatswesens: imperium (weltliche Gewalt) und sacerdotium (geistliche Gewalt). Diese waren jedoch keine vollständig getrennten Sphären. Im Investiturstreit des 11. und 12. Jahrhunderts forderte die Kirche schließlich ihre Unabhängigkeit von weltlicher Einflussnahme - ein Impuls, der langfristig auch säkulare Entwicklungen im Staatswesen begünstigte.
Im 19. Jahrhundert beschränkte Papst Leo XIII. den politischen Machtanspruch der Kirche und betonte ihre innerkirchliche Selbstbestimmung. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) führte diesen Weg fort: Es sprach sich für eine grundsätzliche Unabhängigkeit von Staat und Kirche aus, ließ aber gleichzeitig Kooperationen im Sinne des Gemeinwohls zu.
Drei Modelle im Verhältnis von Staat und Kirche
Im Staatskirchen-Modell ist eine bestimmte Religionsgemeinschaft institutionell mit dem Staat verbunden. Prominentes Beispiel ist England. Seit dem Jahr 1534 ist das englische Staatsoberhaupt zugleich Oberhaupt der Church of England. Über die Jahrhunderte wurde das Modell der Staatskirche reformiert. Heute besteht es unter Berücksichtigung von Prinzipien wie Parität, religiöser Neutralität und individueller Religionsfreiheit.
Auch in Deutschland gab es nach der Reformation ein Konzept enger Verbindung von Landesherren und Kirchen. Das Konzept "cuius regio, eius religio" besagte, dass der Landesherr das Recht hatte, die Religion für sein Gebiet und seine Untertanen zu bestimmen.
Ähnliche Formen bestanden bis weit ins 20. Jahrhundert auch in Ländern wie Italien, Portugal oder Spanien. Infolge der Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde die rechtliche Bevorzugung der römisch-katholischen Kirche dort schrittweise aufgehoben. In einigen orthodox geprägten Staaten Europas sind staatskirchliche Elemente weiterhin präsent. In Griechenland beispielsweise definiert die Verfassung die Orthodoxie als "vorherrschende Religion". Auch in der bulgarischen Verfassung finden sich entsprechende Formulierungen.
Trennungsmodell (Laizismus)
Der Laizismus hingegen trennt strikt zwischen Staat und Religion. Entwickelt wurde dieses Modell in Frankreich im Zuge der Französischen Revolution und im Trennungsgesetz von 1905 gesetzlich verankert. Es garantiert individuelle Gewissensfreiheit und freie Ausübung religiöser Praktiken. Gleichzeitig untersagt es dem Staat, religiöse Handlungen anzuerkennen, zu finanzieren oder zu subventionieren. Ebenso ist religiöse Symbolik in staatlichen Behörden und Schulen untersagt.
In Frankreich lassen sich zwei Ausprägungen des Laizismus unterscheiden: eine liberale, die vor allem die institutionelle Trennung betont, und eine radikale (auch laïcard genannt), die religiöse Betätigung auf den privaten Raum beschränkt sehen möchte.
Während das liberale Verständnis heute auch von den christlichen Kirchen weitgehend mitgetragen wird, wird die strengere Variante insbesondere vom linken politischen Spektrum unterstützt.
Die französische Laizität strebt damit nicht nur staatliche Neutralität, sondern eine vollständige institutionelle Distanz zwischen Religion und Staat an.
Kooperationsmodell
Das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität im säkularen Staat verpflichtet den Staat, keine Religion zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Das in Deutschland geltende Kooperationsmodell sieht daher die institutionelle Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften vor, ermöglicht jedoch ihre Zusammenarbeit in ausgewählten Bereichen. Anders als ein laizistischer verweist ein säkularer Staat Religion nicht grundsätzlich ins Private. Die Grundlage für das Verhältnis von Staat und Kirche bildet das deutsche Grundgesetz in Verbindung mit den Kirchenartikeln der Weimarer Reichsverfassung.
Das Kooperationsmodell basiert auf dem Grundsatz staatlicher Neutralität in religiösen Fragen, erkennt aber zugleich den gesellschaftlichen Beitrag religiöser Akteure an. Es geht davon aus, dass der Staat selbst keine religiöse Ordnung schaffen darf, wohl aber Rahmenbedingungen zur freien Entfaltung religiösen Lebens gewährleisten soll.
Diese Kooperation betrifft vor allem Bildung, Soziales und Seelsorge. Religionsgemeinschaften dürfen an Schulen Religionsunterricht erteilen, Hochschulen betreiben theologische Fakultäten, kirchliche Träger führen Krankenhäuser, Kindergärten und Altenheime. Der Staat übernimmt Aufgaben wie den Einzug der Kirchensteuer oder die rechtliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften.
Die Aussage von Friedrich Merz, Deutschland sei ein laizistischer Staat, spiegelt also nicht die rechtliche und historische Realität wider. Deutschland orientiert sich nicht am französischen Trennungsmodell, sondern folgt einem auf Kooperation ausgerichteten Verständnis von Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität.