Vor Weihnachten wächst in Nigeria die Angst vor neuen Anschlägen

Das Jahr der Terroristen

Gäbe es in Nigeria das "Unwort des Jahres", hätte Boko Haram die besten Chancen darauf. Noch nie zuvor haben die Aktionen der islamistischen Sekte so viele Todesopfer gefordert wie 2011. Ein Ende von Terror und Einschüchterung ist trotz einiger Verhaftungen in den vergangenen Tagen noch längst nicht in Sicht.

Autor/in:
Katrin Gänsler
 (DR)

Es scheint, als setze die Gruppe ihren Kampf für einen Staat auf Grundlage der Scharia und ohne westlich geprägte Demokratie ungebrochen fort. In Nord- und Zentralnigeria macht sich seit einigen Tagen ein unbehagliches Gefühl breit. Eigentlich will man sich auf das Weihnachtsfest freuen, gutes Essen vorbereiten und viel Zeit mit der Familie verbringen. Doch echte Vorfreude kommt nirgends auf. "Ja, es gibt jede Menge Gerüchte", sagt der Priester Anthony Fom, seit Jahren als Koordinator für das Caritas-Komitee für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden in der Stadt Jos tätig. "Hier wird erzählt, es könnte in den kommenden Tagen wieder zu Anschlägen kommen."



Gerade in Jos sitzt die Angst tief. Das einst so beliebte und idyllische Ausflugsziel drei Autostunden von der Hauptstadt Abuja wird seit Jahren von Ausschreitungen zwischen ethnischen Gruppen überschattet. Doch die religiöse Komponente hat sich verschärft. An Heiligabend im vergangenen Jahr ist die Situation schließlich eskaliert. Auf einem Markt eines christlich geprägten Viertels gingen fast zeitgleich vier Bomben in die Luft. "Damals herrschte riesige Verwirrung. Plötzlich lag dein Freund neben dir in einer Blutlache", erinnert sich Manasseh Panpe vom Roten Kreuz. Er war damals mit seinen Kollegen als Ersthelfer im Einsatz.



Angriff auf Vereinte Nationen

Die Bombenanschläge, zu denen sich zuerst eine bis dahin völlig unbekannte Gruppe bekannte, waren der Auftakt eines Terrorjahres in Nigeria. Im Februar warnte die Polizei - auch mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen - vor der Gefahr der islamistischen Organisation, deren Name übersetzt bedeutet: "Westliche Bildung ist Sünde". Boko Haram sei das größte Sicherheitsrisiko, das es in dem afrikanischen Riesenstaat gebe.



Und die Polizei sollte Recht behalten. Bislang hatten die Anhänger ausschließlich im Bundesstaat Borno im Nordosten des Landes operiert. Ende Juni änderte sich das, und das Hauptquartier der Polizei in Abuja wurde zum Ziel der Islamisten. Sie ließen die Regierung spüren, wie verwundbar sie ist - und wie schlecht die Sicherheitsmaßnahmen sind. Es folgten weitere Anschläge auf Lokale, Kirchen, Polizeistationen und Banken.



Endgültig ins internationale Bewusstsein rückte Boko Haram am 26. August. An jenem Freitagmittag griffen Selbstmordattentäter das Gebäude der Vereinten Nationen im belebten Diplomatenviertel von Abuja an. Mehr als 20 Menschen starben. Seitdem hat sich der Druck auf Präsident Goodluck Jonathan extrem erhöht - und in Nigeria vergeht kaum ein Tag, an dem nicht jemand dem Staatsoberhaupt eine neue Lösung für das Problem Boko Haram anbietet.



Auch Unruhen nach den Wahlen

Am meisten gestritten wird allerdings darüber, ob mit Terroristen verhandelt werden dürfe oder nicht. Gesprächsangebote der Regierung gab es in den vergangenen Monaten immer wieder; wohl auch, weil die Spezialeinheit "Joint Task Force" mehr Unheil anrichtete, als sie für Sicherheit sorgte. Der Menschenrechtler und Boko-Haram-Experte Emmanuel Onwubiko ist fassungslos, wenn er nur an einen Dialog denkt. "Die Gruppe hat Tausende unschuldiger Menschen auf dem Gewissen. Mit ihr verhandelt man nicht", sagt er. Eine schnelle Lösung hat freilich auch er nicht parat.



Erschüttert haben in diesem Jahr nicht nur die Anschläge von Boko Haram; für Angst sorgten auch die Unruhen nach den Wahlen. Anfangs gingen die Anhänger der beiden Spitzenkandidaten aufeinander los. Vor allem im Bundesstaat Kaduna wurden im Verlauf der Ausschreitungen auch gezielt Kirchen und Moscheen niedergebrannt. Misstrauen und Angst vor neuer Gewalt sind dort stärker als je zuvor. Und das ist eine Stimmung, von der am Ende auch Boko Haram profitiert.