Vor 75 Jahren starb der Philosoph Edmund Husserl

Die Welt neu erfahren

Er gilt als Begründer einer der einflussreichsten philosophischen Schulen: der Phänomenologie - einer Denkhaltung, die versucht, die Wirklichkeit so genau und vorurteilsfrei wie möglich zu deuten. Vor 75 Jahren starb Edmund Husserl.

Autor/in:
Claudia Zeisel
 (DR)

Der Mathematiker Edmund Husserl prägte mit dieser Methode nicht nur die Philosophie - zu seinen Schülern gehörten etwa Edith Stein oder Martin Heidegger. Auch anderen wissenschaftliche Disziplinen, seien es die ethnologische Feldforschung, Soziologie oder die Psychologie, gab er wichtige Impulse. Am 27. April 1938 starb er in Freiburg im Breisgau.

Geboren wurde er am 8. April 1859 in Proßnitz, Mähren, als Sohn einer jüdischen Familie. Er studierte Astronomie, Physik und Mathematik in Leipzig. In Berlin promovierte er in Mathematik, doch zunehmend widmete er sich auch der Philosophie. Sein Freund Thomas G. Masaryk, späterer Staatspräsident der Tschechoslowakei, überzeugte Husserl schließlich, in Wien die Vorlesungen des Philosophen Franz Brentanos zur Logik und Erkenntnistheorie zu hören. Dort wurde Husserl klar: Die Philosophie, nicht die Mathematik, sollte zu seinem Beruf werden. Masaryk war es auch, der Husserl das Neue Testament und den Protestantismus näher brachte. Mit 27 Jahren ließ sich Husserl in Wien evangelisch taufen. Es waren auch seine "übermächtigen religiösen Erlebnisse" zu jener Zeit, die ihn zur Philosophie zogen.

So wollte Husserl mit einer strengen philosophischen Wissenschaft den Weg zu Gott und zu einem wahrhaften Leben finden. Ein Psalm von Jesaja sollte zu seiner Lebensdevise werden: "Die auf Gott harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler."

Selbstzweifel und Depressionen

Diese Kraft brauchte der unentwegt arbeitende Philosoph Husserl. Oft plagten ihn Selbstzweifel und Depressionen, die Angst vor philosophischem Versagen. Grund dafür waren auch die "Unklarheit" und "scheinhafte Wissenschaftlichkeit" der Philosophie. Doch Husserl entschloss sich, bei seiner philosophischen Arbeit "allen großen Zielen zu entsagen und glücklich zu sein, wenn ich den Stümpfen haltloser Unklarheit nur da und dort einen kleinsten festen Grund mir erarbeiten könne". Die Mühen lohnten sich: In seiner 14-jährigen Privatdozentur an der Universität Halle vollendete er sein erstes grundlegendes Werk, die "Logischen Untersuchungen" (1900-1901). Mit dieser Arbeit, so sagt er, habe er sich selbst von seinen Zweifeln an der Philosophie "kuriert". Es war der Durchbruch seiner Phänomenologie.

In einer Zeit großer wissenschaftlicher Erfolge im Europa der Jahrhundertwende - etwa der Entdeckung der Radioaktivität oder der Röntgenstrahlung - kritisierte Husserl bei den Wissenschaftlern eine mangelnde Skepsis gegenüber den eigenen Erkenntnissen. Woher wussten sie, dass das, was sie wahrnahmen, der Wirklichkeit entsprach? Als ausgebildeter Naturwissenschaftler zweifelte Husserl zwar nicht daran, dass wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt möglich sei. Doch wollte er einen neuen, noch reineren, exakteren Zugang zur Wirklichkeit finden.

So kam er zu seiner phänomenologischen Methode. Mittels einer sogenannten Reduktion sollte der Wissenschaftler sich freimachen von allen Vorurteilen und Traditionen. Er solle "zu den Sachen selbst" gehen, fernab von vorgefertigten Meinungen und strikten Naturgesetzen. Der Wissenschaftler solle seine Wahrnehmung stets hinterfragen und somit eine philosophische Grundhaltung annehmen.

Eben diese philosophische Grundhaltung, so meinte Husserl, sei den Wissenschaften der Neuzeit verloren gegangen. In seinem Spätwerk "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie" (1936) - er war bereits als Professor der Philosophie emeritiert - kritisierte er eine Mathematisierung und Technisierung der Welt, in der für Fragen der Philosophie und des praktischen Lebens kein Platz mehr sei. So aber werde die Welt zunehmend sinnentleert.

Unter den Nazis gelitten

Dadurch nehme auch das persönliche Verantwortungsbewusstsein des einzelnen Wissenschaftlers ab, so Husserl. Um ethisch zu handeln, müsse dieser sich stets selbst erziehen und Selbstverantwortung übernehmen. Auch in Bezug auf die ihn umgebende Welt, die er nie außer Acht lassen dürfe: Husserl wollte eben keine kalte, weltvergessene Wissenschaft. Vielmehr forderte er die philosophische Rückbesinnung der Wissenschaftler auf ein universales Denken, in dem "Ich, wir und die Welt zusammengehören".

Edmund Husserls eigene wissenschaftliche Karriere fand durch die Nationalsozialisten ein bitteres Ende. Nach der Emeritierung wurde er wegen seiner jüdischen Abstammung 1933 vom akademischen Lehrkörper ausgeschlossen, 1937 wurde ihm das Betreten der Universität Freiburg, wo er zuletzt gelehrt hatte, grundsätzlich untersagt. Husserl starb am 27. April 1938 in Freiburg. Sein Nachlass konnte noch im selben Jahr von dem Franziskanerpater Hermann Leo Van Breda und Husserls Witwe Malvine vor den Nazis in die belgische Stadt Löwen gerettet werden. Dort bauten sie das Husserl-Archiv Löwen auf, das bis heute besteht.

 

Quelle:
KNA