Vor 500 Jahren erließ Wittenberg eine neue Kirchenordnung

Die Reformation gewinnt Konturen

Fünf Jahre nach Beginn der Reformation wurde es in Wittenberg ernst: Die neue Stadt- und Kirchenordnung brachte 1522 unter anderem tiefe Eingriffe in den Gottesdienst. Selbst Luther machte die Eigendynamik Sorge.

Autor/in:
Anselm Verbeek
Altstadt mit Wittenberger Stadtkirche Sankt Marien / © LiliGraphie (shutterstock)
Altstadt mit Wittenberger Stadtkirche Sankt Marien / © LiliGraphie ( shutterstock )

Martin Luther, geächtet nach seiner Berufung auf das Gewissen vor dem Wormser Reichstag, war im Thüringer Wald entführt worden. Sein Landesherr hatte ihn - besorgt um das Leben des Verfemten - mit einem Scheinüberfall aus der Öffentlichkeit entfernt. Im Schutz der Wartburg versuchte er, die Erneuerung des kirchlichen Lebens mit Korrespondenzen und Reformschriften zu steuern.

Erste reformatorische Stadt- und Kirchenordnung

Die Reformation in Wittenberg war zum Selbstläufer geworden - auch ohne Luther. Auf der Wartburg drohten ihm indes die Zügel an radikalere Kräfte zu entgleiten: Am 24. Januar 1522 beschloss der Wittenberger Rat eine erste reformatorische Stadt- und Kirchenordnung. Sie entsprach zwar Luthers Neuerungswillen. Aber der Reformator hielt den Zeitpunkt für verfrüht, ja für gefährlich.

Martin Luther Denkmal auf dem Marktplatz in Wittenberg / © Martin Jehnichen (KNA)
Martin Luther Denkmal auf dem Marktplatz in Wittenberg / © Martin Jehnichen ( KNA )

Der Wittenberger Rat hatte die reformatorische Ordnung gegen das Verbot des Landesherrn erlassen. Kurfürst Friedrich wollte keine Neuerung - mit Rücksicht auf die Reichspolitik. Die Stadtordnung war Antwort auf turbulente Zeiten: Mönche verließen die Klöster, Priester heirateten. Die neue Ordnung vereinigte die Einkünfte von veralteten Institutionen. Jede Form von Betteln wurde untersagt, was Mönche ebenso wie bitterarme Studenten traf. Der Fonds sollte Mittellose unterstützen und Begabten Stipendien gewähren.

Bürgerliche und kirchliche Anliegen eng verzahnt

Bürgerliche und kirchliche Anliegen waren in der neuen Ordnung eng verzahnt. Treibende Kraft war Luthers Kollege Andreas Karlstadt. Privatmessen, "stille" Gottesdienste ohne Gemeinde wurden abgeschafft. Die Stadtordnung griff zudem tief ein in den Gottesdienst: In der Messliturgie wurden das eucharistische Hochgebet ausgelassen, die Einsetzungsworte laut und deutsch gesprochen. Bei der Kommunion sollte außer Brot auch der Kelch gereicht werden. Unter das alttestamentarisch strenge Bilderverbot fielen selbst Kruzifixe.

"Es sollen auch die Bilder und Altäre in der Kirche entfernt werden, um Abgötterei zu vermeiden, drei Altäre ohne Bilder sollen vollauf genügen", forderte die Wittenberger Ordnung. Damit sollte der eigenmächtige Bildersturm von Aktivisten, der die Bürgerschaft beunruhigte, legalisiert werden. In der Stadtkirche waren Gottesdienste von Randalierern gesprengt, "Ölgötzen" zerstört worden. Aktivisten, unter Führung des Ex-Mönchs Luther, verbrannten im Augustinerkloster die Altäre und Heiligenbilder, sogar das Salböl für die letzte Ölung.

Abendmahl mit dem Kelch

Reformation

Am 31. Oktober 1517, einen Tag vor Allerheiligen, soll der Augustinermönch Martin Luther (1483-1546) 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen haben. Darin kritisierte er die Ablasspraxis der Kirche. Die Thesen und ihre Folgen lösten weltweit Veränderungen aus, nicht nur in Kirche und Theologie, sondern auch in Musik, Kunst, Wirtschaft und Sozialem.

Martin Luther Denkmal auf dem Marktplatz in Wittenberg / © Martin Jehnichen (KNA)
Martin Luther Denkmal auf dem Marktplatz in Wittenberg / © Martin Jehnichen ( KNA )

Besonders das Abendmahl mit dem Kelch auch für Laien, der zuvor allein dem Priester vorbehalten war, setzte sich immer mehr durch. Erstaunlich, ein solcher Genuss scheint selbst damals auf keine hygienischen Bedenken gestoßen zu sein. Denn regelmäßig wurde auch Wittenberg von Seuchen heimgesucht. Philipp Melanchthon, der 24-jährige Kollege Luthers, fühlte sich überfordert, als aus Zwickau "Propheten", wie sie sich nannten, in Wittenberg auftauchten. Es waren Handwerker aus der Schule des Theologen Thomas Müntzer, der das Evangelium mit politischer Botschaft mengte und das reformatorische Prinzip vom allgemeinen Priestertum auf die Spitze trieb.

Die "Propheten" behaupteten: Die persönlich göttlichen Offenbarungen im Geist ließen Gottes Willen besser erkennen als die Bibel. Natürlich fühlten sie sich im Besitz der Wahrheit. Den Wittenbergern fehlten die Argumente, als die Zwickauer Radikalen die Kindtaufe ablehnten: Sie sei unbiblisch und wider den Verstand; auch Christus habe sich erst als Erwachsener taufen lassen. Die Taufe sollte zum Kennzeichen der "Propheten" werden: die "Wiedertäufer".

Während die kurfürstlichen Räte zu tolerantem Umgang mit der Messpraxis mahnten, feierte Karlstadt das sensationell angekündigte Abendmahl an Weihnachten in der brechend vollen Stadtkirche. Der Geistliche zelebrierte in Alltagskleidung und reichte jedem Brot und Wein in die Hand; Beichte und Nüchternheitsgebot waren passe.

Invokavit-Predigten

Ohne Luther drohte die Situation außer Kontrolle zu geraten. Gegen Bedenken seines Kurfürsten, der reichsrechtliche Verwicklungen fürchtete, ritt "Junker Jörg" von der Wartburg nach Wittenberg und schlüpfte in die Mönchskutte. Seiner zerstrittenen Gemeinde deutete er, dass sie in christlicher Liebe mit den "Schwachen" umgehen solle, wie er die nannte, die noch dem "alten Glauben" anhingen.

In den acht Invokavit-Predigten, die am 9. März 1522 begannen, predigte Martin Luther seiner Gemeinde täglich mit größtem Erfolg: "Darum liebe Freunde, folgt mir, ich hab es ja noch nie verderbet, ich bin ja der erste gewesen, den Gott auf diesen Plan gesetzt hat." Wieder einmal bewies der Reformator Mut und Führungsstärke.

Quelle:
KNA