Vor 20 Jahren noch galt die Berliner Mauer nicht nur Honecker als Bau für die Ewigkeit

Erichs Irrtum

Unmittelbar vor Beginn seines Referats am 19. Januar 1989 fügte Erich Honecker in sein Rede-Manuskript eine bis heute unvergessene Bemerkung ein. "Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen", sagte der DDR-Staats- und SED-Chef auf einer Tagung des Thomas-Müntzer-Komitees in Ost-Berlin. Noch niemand glaubte wenige Monate vor dem Mauerfall an das Ende der DDR.

 (DR)

Die selbst für seine engeren Mitarbeiter überraschenden Worte waren weniger an die Bundesrepublik als in Richtung Moskau gerichtet. Die Nerven Honeckers lagen blank. In der von Michail Gorbatschow geführten Sowjetunion waren seit einiger Zeit Gedankenspiele an der Tagesordnung, wie die Trennung Europas in zwei sich feindlich gegenüberstehende Militärblöcke nach dem Ende des Kalten Krieges aufgehoben werden könne.

So hatte der Gorbatschow-Berater Wjatscheslaw Daschitschew in Thesen-Papieren «realistische, kühle außenpolitische Überlegungen» angemahnt und die Mauer als Relikt des Kalten Krieges bezeichnet. Als Preis für ein gemeinsames europäisches Haus und den Ausbau der Beziehungen zum Westen, so auch andere Querdenker in Moskau, dürfe die Aufgabe der DDR als bisher engster Verbündeter Moskaus nicht mehr ausgeschlossen werden.

Für Honecker waren solche Gedankengänge starker Tobak, zumal selbst in Kreisen der SED Zweifel am Dogma der Führungsriege im Politbüro laut wurden, wonach mit der Existenz von DDR und BRD «die deutsche Frage ein für alle Mal gelöst» sei. Immer mehr Bürger stießen sich an der Unfähigkeit der DDR-Führung, in der nationalen Frage neue Ideen zu entwickeln und erstrebenswerte Perspektiven aufzuzeigen.

1961 hatte die SED-Propaganda den Bau der Mauer noch als «vorläufige Maßnahme» hingestellt, um die Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte in den Westen zu stoppen und die DDR vor einem Ausbluten zu bewahren. 1986, zum 25-jährigen Bestehen der Mauer, war dann plötzlich von einer dauerhaften «historischen Tat» die Rede, mit der «der Grundstein für das weitere Erblühen der DDR» gelegt worden sei. Auch auf ein Reisegesetz warteten die Bürger immer noch vergeblich.

Honeckers trotzige Äußerung, die Mauer werde noch Jahrzehnte fortbestehen, «musste gerade anstachelnd auf alle wirken, die aus der DDR wegwollten», notierte Karl Seidel, damals Deutschlandpolitiker im DDR-Außenministerium. «Allein 1987 gab es 105 000 Ausreiseanträge, im Jahr darauf 113 500. Das Demokratiedefizit, der sichtbar höhere Lebensstandard in der BRD, verwandtschaftliche Bindungen und nicht zuletzt die von BRD-Seite bewusst aufrechterhaltene einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft gehörten zu den wichtigsten Triebkräften für das Verlassen der DDR.»

Die SED habe nicht beachtet, so bilanzierte jüngst auch der Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, «welche tiefinneren Verbindungen zum westlichen Teil Deutschlands bestanden, der 28 Jahre lang durch den 'Antifaschistischen Schutzwall' - jener grässlichen Mauer - abgespalten war und welche persönlichen (materiellen) Sehnsüchte unbefriedigt blieben».

Doch zu Beginn des Jahres 1989 hielt es noch niemand für möglich, dass nur zehn Monate später die Mauer fallen und eine friedliche Revolution der DDR-Bürger den Weg zur Einheit ebnen sollte. Auch in Bonn rechnete noch niemand mit einer baldigen Wiederherstellung der deutschen Einheit. Die DDR sei kein Land für dramatische Änderungen und Wechsel, so stellte am 2. Januar 1989 Hans-Otto Bräutigam, Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in Ost-Berlin, in einem Interview fest. Seine Prognose: Eine Demokratisierung im westlichen Sinne sei kaum vorstellbar.