Vor 100 Jahren gelang erste erfolgreiche Insulinbehandlung

Drohender Tsunami: Diabetes-Erkrankungen nehmen stark zu

Diabetes ist zur Volkskrankheit geworden. Weltweit droht ein Tsunami der Erkrankungen. Vor 100 Jahren gelang erstmals eine Behandlung mit Insulin - ein Meilenstein der Medizingeschichte.

Autor/in:
Christoph Arens
Eine Frau misst den Zuckerspiegel im Blut. / © Montri Thipsorn (shutterstock)
Eine Frau misst den Zuckerspiegel im Blut. / © Montri Thipsorn ( shutterstock )

Jahrhunderte lang bedeutete die Zucker-Krankheit ein Todesurteil. Obwohl die Symptome des Diabetes seit der Antike bekannt waren, gab es bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts kaum Behandlungsmöglichkeiten. Durch eine Ernährung mit wenig Kohlehydraten konnte Erkrankten allenfalls ein oder zwei Jahre überleben.

Insulintherapie ist Meilenstein der Medizingeschichte

Das änderte sich vor 100 Jahren: Am 23. Januar 1922 erhielt in Kanada der 13-jährige Leonard Thompson als erster Patient weltweit erfolgreich tierisches Insulin gespritzt. Im Jahr zuvor war es den Medizinern Frederick Banting und Charles Best erstmals gelungen, Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden zu isolieren.

Heute können Menschen mit Diabetes Typ 1 ein nahezu normales Leben führen. Das betrifft in Deutschland etwa 341.000 Erwachsene sowie circa 32.000 Kinder und Jugendliche, die an Diabetes Typ 1 erkrankt sind. Sie und auch ein Teil der 8,5 Millionen Menschen mit Diabetes Typ 2 hierzulande werden täglich, häufig auch lebenslang, mit Insulin behandelt.

Für Andreas Neu, Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), ist die Entdeckung der Insulintherapie deshalb ein Meilenstein der Medizingeschichte. Weitere große Fortschritte folgten: 1924 kam die erste Insulinspritze auf den Markt, 1934 das Verzögerungsinsulin, das langsamer aus dem Fettgewebe in die Blutbahn abgegeben wird, so dass die Wirkung länger andauert.

Neue Messmethoden und Insulinpumpen vereinfachen Therapie

Insulin wurde zunächst großtechnisch aus den Bauchspeicheldrüsen von Rindern und Schweinen gewonnen. Da es sich aber geringfügig von dem des Menschen unterscheidet, wurde versucht, menschliches Insulin zu produzieren. Das gelang erstmals 1983.

Auch die Bestimmung des Blutzuckerwerts wurde wesentlich einfacher. Die Glukosemessung, zunächst nur beim Arzt möglich, wurde in den 1960er Jahren durch Urinzucker- und Blutzuckermessstreifen vereinfacht. Eine regelmäßige Selbstmessung zu Hause wurde erst ab den 1980er Jahren Realität.

1983 kamen auch Insulinpumpen auf den Markt, die die Patienten laufend mit Insulin versorgen. Die Nutzer tragen sie ständig bei sich; das mehrfache tägliche Spritzen mit dem sogenannten Pen entfällt. "Heute nutzen mehr als 60 Prozent aller Kinder und Jugendlichen eine Insulinpumpe, im Kleinkindesalter sind es mehr als 90 Prozent", erläutert Neu. Die Forschung arbeitet an einer künstlichen Bauchspeicheldrüse, bei der ein Algorithmus auf Basis einer kontinuierlichen Glukosemessung die Insulinabgabe der Pumpe steuert.

Weltweit jeder elfte Erwachsene betroffen

Der DDG-Präsident betont zugleich, dass insbesondere Diabetes Typ 1 Betroffene und Ärzte weiterhin vor große Herausforderungen stellt. "Menschen, insbesondere Kinder und Heranwachsende, sind keine Maschinen, die nach festen Algorithmen funktionieren", betont der Kinderdiabetologe. Die Therapie verlange den Patienten sowie ihren Familien auch heute viel ab.

Auch gesellschaftlich ist Diabetes eine Herausforderung mit hohen menschlichen und finanziellen Kosten - weltweit. Nach Angaben der International Diabetes Federation leben derzeit global mehr als 460 Millionen Erwachsene mit der Krankheit, also einer von elf Erwachsenen. Die Hälfte weiß nichts davon. Unerkannt und unbehandelt, drohen den Patienten schwere Komplikationen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Nierenversagen oder Amputationen.

Von einem drohenden Tsunami sprechen Experten: Die Wachstumskurve dieser stillen Pandemie werde explodieren. Bis 2045 könnten rund 700 Millionen Menschen betroffen sein. In Deutschland muss - wenn die Entwicklung nicht gebremst wird - bis zum Jahr 2040 mit zwölf Millionen Erkrankten gerechnet werden.

Mediziner fordern Lebensmittelkennzeichnung mit Nutri-Score

Die Politik hat reagiert - wenn auch aus Sicht der Mediziner zu langsam. 2020 hat Bundestag erste Vorgaben für eine Nationale Diabetes-Strategie beschlossen. Zentrales Ziel: Mehr Vorbeugung, eine gesunde Ernährung und ausreichende Bewegung sowie deren Vermittlung in Kindergärten, Schulen und der ärztlichen Ausbildung. Mediziner fordern unter anderem eine verpflichtende Kennzeichnung aller Lebensmittel mit dem Nutri-Score, weniger Zucker, Fett und Salz in Nahrungsmitteln. Die neue Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag festgelegt, einen Nationalen Präventionsplan auch zu Diabetes ins Leben zu rufen.

Quelle:
KNA