Philosoph Konersmann über Messen, Maß und Maßlosigkeit

Vom Zauber der Zahl

"Nichts im Übermaß", so lautete ein Ratschlag des Orakels von Delphi. Doch das Maßvolle, das Maßhalten, sind aus der Mode gekommen. Wann und warum, das analysiert der Philosoph Ralf Konersmann in seinem neuen Buch.

Autor/in:
Christoph Arens
Zahlen aus Holz in zufälliger Anordnung / © romeovip_md (shutterstock)
Zahlen aus Holz in zufälliger Anordnung / © romeovip_md ( shutterstock )

Der Begriff "Maß" hat eine doppelte Bedeutung. Da sind Messwerte, Zahlen und Proportionen, die die Welt als berechenbar und messbar präsentieren. Und da ist das "Maß der Dinge", das Maßvolle: Wenn Menschen abwägen, urteilen und Entscheidungen treffen müssen. Fast alle Ethik befasst sich mit Fragen des richtigen Maßes.

Vorstelllung des "Maß" durch Klimakrise heute wieder aktuell

"Für die längste Zeit der europäischen Geschichte waren Maß und Maße, Ethik und Technik, Moral und Wissen zwei Seiten ein und derselben Medaille", schreibt der Kieler Kulturphilosoph Ralf Konersmann in seinem neuen Buch "Welt ohne Maß". Es galt, sich an das Maß zu halten - an das, was sowohl sachlich als auch sittlich geboten ist. In einer Welt des Maßes hat alles seinen Platz - eine seit der Antike entwickelte Vorstellung, die in heutigen Debatten über Ökologie und Klimakrise eine neue Aktualität gewinnt.

Doch diese Einheit von Maß und Maßen ist spätestens seit dem 16. Jahrhundert und erst recht im Zeitalter der Industrialisierung zerbrochen, wie Konersmann in seiner von großer Gelehrsamkeit zeugenden, für Nicht-Philosophen allerdings nicht immer einfach zu lesenden Ideengeschichte des Maßes erzählt. Das rein technische Messen und Rechnen ist seitdem auf dem Vormarsch. Das Maßvolle erscheint spießig und fortschrittsfeindlich.

Konersmann, bis März Direktor des Philosophischen Seminars der Uni Kiel, hatte bereits in seinem 2015 erschienen Buch "Die Unruhe der Welt" eine Tiefenströmung der westlichen Gesellschaften analysiert. Die westliche Kultur sei fixiert auf Unruhe und Bewegung; Ruhe bedeute Stillstand und Langeweile, so das vorherrschende Lebensgefühl. "Welt ohne Maß" knüpft an diese Analyse an.

Sakralisierung der antiken Vorstellung

Dabei war die Vorstellung vom Maß ein Versprechen: "Nichts im Übermaß", so lautete eine der Inschriften, die Besucher im Orakel von Delphi empfingen. Es liege, schrieb der römische Schriftsteller Horaz, ein Maß in allen Dingen. Der ganze Kosmos war so verfasst, dass er für den Menschen gestaltbar und ihm angemessen war. Auf dieses Maß musste der Mensch Rücksicht nehmen. Cicero verwies darauf, was es bedeutet, wenn dieses Maß überschritten wurde. Leichtsinn, Zügellosigkeit und Ausschweifungen drohten die Zivilisation und das Glück der Menschen zu zerstören.

Juden und Christen sakralisierten diese antike Vorstellung: "Du aber", so wird Gott im Buch der Weisheit gepriesen, "hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet". Der Schöpfer als Handwerker, der den Menschen eine berechenbare und gestaltbare Welt anvertraut: Neben der Heiligen Schrift war damit auch die Schöpfung eine Offenbarung Gottes, die sich beobachten und erforschen lässt. Ohne Zweifel habe Gott gewollt, dass der Mensch die Maße des Schöpfers in der Natur entdecke und nutze, so die religiöse Begründung für Wissenschaft und Technik.

Damit aber begann die Trennung von Maß und Maßen: "Wer eindeutige Zahlen und zweifelsfreie Erkenntnisse will, muss bereit sein, ethische Ansprüche beiseite zu stellen und sich, allein aus Gründen der methodischen Strenge, auf den Horizont des Quantifizierbaren beschränken", schreibt Konersmann. "Die Vermessung der Welt tritt in den Dienst des reinen Machens, der ziellosen Entbindung aller denkbaren Möglichkeiten." Mit der Reduktion des Maßes auf das Messen verbinden sich Wünsche nach grenzenloser Mehrung, Steigerung und Überbietung: "Man tut es, und man darf es, weil man es kann."

"Religiöses Vertrauen" in Zahlen und Messbarkeit

Konersmann wendet sich allerdings gegen den Eindruck, als sei der Siegeszug quantitativer Verfahren ein einfacher Säkularisierungsvorgang. Indem die Moderne dem Zauber der Zahl, der demoskopischen Daten und der Statistik nachgegeben habe, sei sie der mythischen Urerzählung von der Messbarkeit der Welt treu geblieben. Entstanden sei ein quasi religiöses Vertrauen in Zahlen, Statistik und Messbarkeit - und die Überzeugung, dass der Mensch zweifelsbefreites Wissen erlangen kann.

Konersmann unterstreicht, dass er eine Jahrtausende alte Entwicklung nachzeichnen wolle, ohne in eine Kritik einzutreten. Allerdings betont er im Schlusskapitel, dass die Entwicklung, die sich vorzugsweise in technischen Neuerungen beweise, an anderer Stelle neue Zwänge und hohe Kosten hervorrufe.


Ralf Konersmann, Professor der Philosophie und Buchautor (Archivbild) / © Harald Oppitz (KNA)
Ralf Konersmann, Professor der Philosophie und Buchautor (Archivbild) / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
KNA