Verbände kritisieren Pflegereform

Beschlossenes "Reförmchen"

Verbänden und der Opposition geht die neue Pflegereform nicht weit genug. Im domradio.de-Interview kritisiert Bernd Katzenstein vom Deutschen Institut für Altersvorsorge die Pläne der Regierung. Das Umlagesystem werde auf ein "Riesendefizit" hinauslaufen. Aus wahltaktischen Gründen habe die Regierung auf unpopuläre Entscheidungen verzichtet.

 (DR)

Katzenstein nannte die Herausforderungen in der Pflegeversicherung als gewaltig und führte aus: "Wir haben heute ungefähr 2,2 Millionen Pflegebedürftige und durch die Demografie wird sich das in den nächsten Jahrzehnten verdoppeln." Gleichzeitig sinke aber auch die Zahl der Beschäftigten, die in die Pflegeversicherung einbezahlen, um rund ein Viertel. Das Umlagesystem laufe so auf ein "Riesendefizit" hinaus, warnte Katzenstein am Mittwoch im domradio.de-Interview.



Kritik: Regierung schiebt wirkliche Reform auf

Die Regierung habe eine tiefgreifende Reform aus wahltaktischen Gründen gescheut. "Man hätte sehr früh eine Kapitaldeckung machen müssen, also jeder zahlt in einen Versicherungstopf ein, aus dem dann alle befriedigt werden", empfahl Katzenstein. Mit den aktuellen Plänen werde das Problem in die Zukunft verschoben.



Der Sprecher des Deutschen Instituts für Altersvorsorge lobte jedoch die Pläne für Demenzkranke. "Das war dringend notwendig", betonte Katzenstein. Demenzpatienten und ihre pflegenden Angehörigen seien in dem bisherigen System kaum berücksichtigt worden.



Mit der Reform sollen Demenzpatienten stärker unterstützt werden

Das Bundeskabinett hat am Mittwoch die umstrittene Pflegereform beschlossen. Mit dem Gesetzentwurf sollen Demenzkranke und ihre pflegenden Angehörigen bessergestellt werden.  Daneben sieht das "Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz" von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) flexiblere Leistungen, bessere Beratung und die Förderung von Pflege-Wohngemeinschaften vor. Verbänden und Opposition reicht das Gesetzesvorhaben nicht aus.



Die zusätzlichen Kosten sollen durch eine Beitragserhöhung ab 2013 um 0,1 Prozentpunkt auf dann 2,05 Prozent (2,3 Prozent für Kinderlose) getragen werden. Damit entstehen Mehreinnahmen von rund 1,1 Milliarden Euro. Bahr sagte, die Hauptlast der Pflege werde in den Familien geleistet. Pflege müsse nicht nur finanzierbar, sondern auch menschenwürdig sein.



Der Minister betonte, der Gesetzentwurf sei ausdrücklich ein "Vorgriff" auf die Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der Demenzkranke besser berücksichtigt.



Das Thema werde vom Anfang März neu eingesetzten Expertenbeirat "zügig bearbeitet". Den Weg hin zum neuen Pflegebegriff bezeichnete Bahr als nicht einfach: So müssten unter anderem Abgrenzungen zu anderen Sozialleistungen vorgenommen werden.



Mehr Geld erhalten durch die Pflegereform die rund 500.000 Demenzkranken, die zu Hause gepflegt werden. Künftig sollen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen zudem statt einzelner Leistungen wie der Körperpflege ein Zeitvolumen wählen können und selber bestimmen, welche Leistungen in dieser Zeit erbracht werden sollen.



Kassen sollen über Anträge zügiger entscheiden

Pflegekassen müssen künftig zügig Beratungstermine anbieten und Strafen an den Antragsteller zahlen, wenn sie eine Frist zur Entscheidung eines Antrags überschreiten. Angehörige sollen leichter als bisher eine Auszeit von ihrer Arbeit nehmen können. Bei einer sogenannten Kurzzeit- oder Verhinderungspflege wird das Pflegegeld zur Hälfte weiterbezahlt.



Pflege-Wohngruppen erhalten künftig unter bestimmten Voraussetzungen pro Bewohner 200 Euro zusätzlich zu den bisherigen Leistungen. Davon soll eine gemeinsame Betreuung gezahlt werden.



Ungeregelt bleibt die Frage nach einer Pflege-Zusatzversicherung

Ungeregelt bleibt die Frage nach einer Pflege-Zusatzversicherung. Die Förderung soll in einem eigenen Gesetz geregelt werden. Dazu seien Bundesgesundheits- und Bundesfinanzministerium im Gespräch, sagte Bahr.



Von Verbänden und Opposition kam Kritik. Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), bemängelte, Pflegebedürftige und Pflegekräfte würden ohne einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff mit ihren Problemen alleingelassen. Die Beitragssatz-Anhebung sei absolut unzureichend.



Caritas lobt Förderung ambulanter Wohngruppen

Enttäuscht zeigte sich auch der Sozialverband VdK Deutschland. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff müsse schnell umgesetzt werden, um die Ungleichbehandlung Demenzkranker in der Pflege wirklich auszuräumen. Ähnlich äußerte sich auch Caritas-Präsident Peter Neher. Positiv sei aber, dass es mehr und bessere Leistungen für Demenzkranke gebe und ambulante Wohngruppen gefördert würden, sagte Neher.



"Menschenwürde verträgt kein Stückwerk", bemängelte der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbands. Die Politik dürfe nicht länger Zeit mit Schönheitsreparaturen und Mini-Reformen vergeuden.



Der Präsident des Deutschen Pflegerats, Andreas Westerfellhaus, forderte in einem Interview mit den Zeitungen der "WAZ-Mediengruppe" (Donnerstagausgaben), der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und die Finanzierung müssten bis Jahresende stehen. Andernfalls werde das Thema wegen der Bundestagswahl zerredet und verschoben.



Die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne), warnte vor einer "Pflegekatastrophe". Der Entwurf bringe nur kleine Verbesserungen statt einer echten Reform. Die SPD-Vizefraktionsvorsitzende im Bundestag, Elke Ferner, warf Bahr "Drückebergerei" vor. Zentrale Probleme wie eine nachhaltige Finanzierung seien nicht angegangen worden.



Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums sind derzeit 2,4 Millionen Menschen pflegebedürftig. Die Zahl der an Demenz erkrankten Menschen wird auf 1,2 Millionen geschätzt.