DOMRADIO.DE: Als Josef Ratzinger 2005 zum Papst gewählt wurde, titelte eine deutsche Zeitung "Wir sind Papst". Alle waren begeistert, auch die, die mit Glauben und Kirche nicht viel am Hut hatten. Ist in den USA jetzt die Freude über den ersten US-amerikanischen Papst ähnlich groß?

Heidi Schlumpf (Journalistin für die US-amerikanische katholische Zeitschrift "National Catholic Reporter"): Die Aufregung ist groß. Wenn man hier in Chicago mit den Menschen spricht – egal ob katholisch oder kirchenfern – ist jeder, der irgendeine Verbindung zu ihm hat, stolz. Egal, ob sein Pizzabote oder sein Lieblingsrestaurant, wo er immer italienische Beef-Sandwiches gegessen hat. Jetzt werden Jahrbücher aus dem College oder Highschool ausgekramt, in denen Fotos aus seiner Kindheit und Jugend zu sehen sind und jeder kennt jemanden, der ihn kennt.
Aber jenseits von diesem Alltäglichen gibt es da einen wichtigen Aspekt. Die Menschen haben das Gefühl: Er ist einer von uns. Es gibt da eine Verbundenheit, er ist kein Fremder, sondern jemand, zu dem wir einen Draht haben. Allein einen Papst unsere Sprache sprechen zu hören, schafft etwas Vertrautes und für uns sehr bedeutsam.
DOMRADIO.DE: Er ist in Chicago geboren und aufgewachsen. Haben Sie ihn jemals persönlich getroffen?
Schlumpf: Meine Zeit in Chicago fiel nicht mit seiner hier zusammen. Aber wir wissen, dass gerade die Menschen im Süden der Stadt, wo er groß wurde, sehr stolz sind. Die South Side boomte in der Nachkriegszeit, als seine Eltern dorthin zogen. Aber ab den 1980er Jahren kam der wirtschaftliche Niedergang und das ehemals reiche, weiße Stadtviertel ist heute von Gewalt und Armut geprägt. Die Gemeinde "St. Mary of the Assumption", in der er aufwuchs, existiert heute leider nicht mehr, sie wurde 2011 fusioniert.
Papst Leo ist also ein echter "South-Sider", das ist eine wichtige Unterscheidung, die hier in Chicago gemacht wird. Deswegen ist er auch – entgegen anders lautender Gerüchte – definitiv ein Fan der White Sox (Anm. der Red.: Die Chicago White Sox sind ein Major-League-Baseball-Team in der Central Division der American League.) Derzeit kursiert in den Sozialen Medien ein Clip vom Finale der US-amerikanischen Baseball-Profiligen im Jahr 2005. Die Kamera schwenkt über das Publikum und da sieht man Prevost im Trikot der White Sox auf der Tribüne sitzen. Für die White Sox läuft es gerade sportlich nicht so gut und deshalb werden viele Witze darüber gemacht, wie er ihnen als Papst in Zukunft wieder auf die Beine helfen könnte.
DOMRADIO.DE: Hier in Europa war nach seiner Wahl schnell von einem "Anti-Trump" die Rede: Auf der einen Seite Trump, der Mauern baut und andererseits Leo, der Brücken baut. Sieht man das in den USA auch so?
Schlumpf: So, wie gerade alle ihre Jahrbücher durchblättern, haben natürlich auch wir beim National Catholic Reporter nach Verbindungen zu ihm gesucht. Und tatsächlich hat er einen unserer jüngeren NCR-Artikel retweeted, in dem es um die Aussage von Vizepräsident J.D. Vance ging, der mit der katholischen Lehre die massive Streichung der Auslandshilfen gerechtfertigt hatte. "JD Vance is wrong: Jesus doesn't ask us to rank our love for others”, hatte unser Autor in seinem Text im Februar geschrieben, den Prevost geteilt hat. Das und andere Posts bei Social Media legen nahe, dass er mit vielen Themen der Trump-Administration, vor allem in der Migrationspolitik, nicht einverstanden ist.
Papst Leo wurde in seiner ersten Pressekonferenz am vergangenen Montag gefragt, ob er eine Botschaft für die USA hätte und er antwortete nur: "Ja, viele." Er hat den Ruf, sehr bedacht zu antworten. Aber ich glaube, selbst aus diesem Zwei-Wort-Satz kann man viel heraushören.
Man muss aber auch wissen, dass einer seiner Brüder, der der in Florida lebt, zumindest den Social-Media-Recherchen zufolge eher ein Trump-Anhänger zu sein scheint.
DOMRADIO.DE: US-Präsident Donald Trump hat dem Papst recht schnell nach der Wahl gratuliert, obwohl Prevost, wie gerade schon erwähnt, ihn und seine Migrationspolitik zuvor deutlich kritisiert hatte. Hat sie das überrascht?
Schlumpf: Ja, er hat ihm gratuliert, ohne etwas Peinliches zu sagen. Das war wirklich sehr überraschend. Wenn man die Reaktionen auf seine Wahl vergleicht: In Peru, wo Prevost lange gelebt hat und dessen Staatsbürgerschaft er besitzt, hat man singende und jubelnde Menschen gesehen. Hier bei uns ist es eher eine Art Vereinnahmung, es geht mehr um den Lieblings-Italiener oder seinen Sportclub, als um die Frage, was ihn prägt oder wofür er in christlicher Hinsicht steht. Und so ähnlich war auch der Glückwunsch von Trump, im Sinne von: "Amerika, hurra". Aber das war schon ok.
Eine Kollegin von Religion News Service sagte kürzlich: "Leo ist nun der einflussreichste und mächtigste Amerikaner der Welt." Das dürfte Trump nicht besonders gefallen, weil er keine Menschen mag, die mächtiger und einflussreicher als er sind. Darum ist es interessant, wie sich diese Beziehung zwischen den beiden entwickeln wird.
DOMRADIO.DE: Der frühere Chefstratege des Weißen Hauses, Steve Bannon, nennt Papst Leo XIV. eine "marxistische Marionette im Vatikan". Hinter der Wahl vermutet er die Machenschaften einflussreicher Globalisten. Wie verbreitet ist diese Ansicht in den USA?
Schlumpf: Man sollte seine Aussagen nicht allzu ernst nehmen. Er hat natürlich Einfluss, das darf man nicht unterschätzen. Aber er spricht nicht für die Mehrheit der konservativen Katholiken. Es gibt diese sehr rechten Katholiken, die kritisiert haben, dass er nicht nur Englisch auf der Loggia gesprochen hat und die sich sorgen, dass er in Franziskus' Spuren bleiben könnte, zum Beispiel im Hinblick auf das Thema Synodalität.
Andererseits ist Leo auch nicht der superliberale Kandidat, etwa bei Fragen der Segnung von queeren Paaren oder der Weihe von Frauen. Er ist promovierter Kirchenrechtler, was nahelegt, dass er das Kirchenrecht respektiert. Ich habe den Eindruck, die Mehrheit der konservativen Katholiken in den USA wartete derzeit ab und verfolgt aufmerksam, wie sich ihre Themen entwickeln. Aber im Moment ist es noch der Zauber des Anfangs, eine Art Honeymoon – außer für Steve Bannon.

DOMRADIO.DE: Es gibt Vorwürfe, Prevost habe in seiner Zeit in Chicago einem seit 1991 wegen Missbrauchsvorwürfen suspendierten Augustinerpater erlaubt, unter Aufsicht in einem Kloster in Chicago zu wohnen. Was wissen Sie über diesen Fall?
Schlumpf: Ich habe von diesen Vorwürfen gelesen und weiß, dass sich Betroffenenvertreter kritisch geäußert habe, in dem Sinne, dass er in einigen Fällen nicht schnell genug oder angemessen reagiert habe.
In Chicago war der Fall so, dass ein Augustiner-Priester wegen Fällen von Kindesmissbrauch seinen Dienst nicht mehr ausüben durfte und in einem Kloster des Ordens – unter Einhaltung der Disziplinarmaßnahmen – untergebracht wurde, das in der Nähe einer katholischen Grundschule lag. Der Vorwurf lautete, dass man das Risiko damals nicht gesehen habe.
So etwas sollte definitiv nicht passieren. Mir ist allerdings auch nicht ganz klar, inwiefern er dafür persönlich die Verantwortung trug und was das Erzbistum damit zu tun hatte. Aber ich verstehe die Sorge der Betroffenen, die sicher gehen wollen, dass an der Spitze der Kirche jemand steht, der die Sache ernst nimmt.
DOMRADIO.DE: Die katholischen US-Bischöfe sind gespalten, in der US-Bischofskonferenz gibt es Positionen vom liberalen Washingtoner Kardinal Robert McElroy bis zum konservativen New Yorker Kardinal Timothy Dolan. Wie haben diese die Wahl von Papst Leo XIV. aufgenommen?
Schlumpf: Die Gratulationen nach der Wahl waren verhalten und sie kamen etwas später als alle anderen. Aber die Tatsache, dass Prevost so schnell gewählt wurde und dass er – nach dem, was wir hören – im Konklave recht zügig die Zweidrittel-Mehrheit erlangte, spricht meines Erachtens dafür, dass die Kardinäle sich doch einiger sind, als das in der Öffentlichkeit den Anschein macht.
Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass die katholische Kirche in den USA sehr polarisiert ist, aber vielleicht ist dieser neue Papst in der Lage, diese Differenzen zu überwinden. In der amerikanischen Bischofskonferenz dominieren derzeit die konservativen, viele wurden noch von Johannes Paul II. ernannt und sie sind auf seiner Linie. Aber das wird sich mit der Zeit auch ändern.
DOMRADIO.DE: Was erwarten oder erhoffen sich die Amerikaner von dem neuen Papst?
Schlumpf: Das kann man nicht pauschal sagen. Aber das große Thema, das die Kirche in den USA bewegt, ist die Einwanderung und der Umgang mit Migranten und Flüchtlingen. Es ist erschreckend zu sehen, wie Familien auseinandergerissen und Menschen ausgewiesen werden, zum Teil in Länder, mit denen sie nichts zu tun haben. Beim Thema Migration haben die US-Bischöfe immer mit einer Stimme gesprochen und wir wissen auch, dass es Papst Leo wichtig ist. Ich hoffe, dass er weiter hin darauf einwirken kann, wie Katholiken in den USA über dieses Thema denken handeln.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.