Leiter von Bergen-Belsen sieht Gedenken an NS-Verbrechen in Gefahr

"Unsere Erinnerungskultur ist zu stark auf die Opfer zentriert"

Im April steht der 75. Jahrestag der Befreiung von Bergen-Belsen an. Im Interview spricht der Leiter der KZ-Gedenkstätte unter anderem über den Umgang seiner Mitarbeiter mit provokanten Fragen und die Krise der deutschen Erinnerungskultur.

KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen / © Holger Hollemann (dpa)
KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen / © Holger Hollemann ( dpa )

KNA: Sie haben kürzlich beklagt, dass in der Gedenkstätte Bergen-Belsen immer mehr provokante Fragen von Schülern gestellt werden. Was genau meinten Sie damit?

Jens-Christian Wagner (Seit 2014 Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und damit auch Leiter der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen): Zunächst einmal möchte ich betonen, dass ich nichts gegen kritische Fragen habe. Im Gegenteil: Fragen, die der Wissenserweiterung, dem Erkenntnisgewinn oder einer diskursiven Auseinandersetzung dienen, heiße ich ausdrücklich willkommen. Bei den Fragen, die ich beklage, handelt es sich allerdings um provokante Äußerungen, deren Ziel die Verhinderung eines Diskurses ist. Dazu werden einfach Behauptungen in den Raum gestellt, über die sich gar nicht diskutieren lässt.

KNA: Können Sie ein Beispiel nennen?

Wagner: Der Klassiker in Bergen-Belsen ist die Behauptung, die hohen Todeszahlen Anfang 1945 seien nicht das Ergebnis der schlechten Behandlung durch die SS gewesen, sondern Folge der Luftangriffe der Alliierten auf die Versorgungswege. So habe die SS die Häftlinge nicht mehr ernähren können.

KNA: Wie häufig hören Sie solche und ähnliche Äußerungen?

Wagner: Das kommt immer wieder mal vor. Bei strafrechtlich relevanten Fällen erstatten wir Anzeige.

KNA: Wie oft kommt das vor?

Wagner: Nicht mehr als einmal im Monat - allerdings nicht nur wegen justiziabler Äußerungen, sondern auch zum Beispiel wegen Schmierereien im Besucherbuch. Die meisten Aussagen sind strafrechtlich nicht relevant. Es handelt sich häufig um eine Relativierung und nicht um eine Leugnung des Holocaust.

KNA: Was antworten Sie und Ihre Guides auf die provokanten Fragen?

Wagner: Zunächst einmal suchen wir die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Fragesteller. In der Regel haben wir die besseren Argumente. Wir kennen die Geschichte der NS-Zeit sehr genau. Wenn der Fragesteller jedoch erdachte Behauptungen entgegenhält und wir merken, dass er nur stören will, dann stellen wir den Diskurs ein. Wenn es nicht anders geht und beispielsweise die Betreuung einer Gruppe unmöglich wird, erteilen wir ein Hausverbot. Das kommt aber äußerst selten vor.

KNA: Werden Ihre Guides auf solche Situationen vorbereitet?

Wagner: Ja. Unsere Guides lernen, sogenannte Signalfragen zu erkennen, mit denen jemand den vermeintlichen Beweis hervorlocken möchte, dass in Bergen-Belsen Geschichte gefälscht wird. So vermeiden wir, dass sie in eine Falle tappen. Außerdem werden sie im Hinblick auf Erkennungszeichen von Rechtsextremen geschult, die zum Beispiel auf der Kleidung getragen werden.

KNA: Was glauben Sie, sind die Ursachen für die Zunahme dieser Fragen?

Wagner: Zu den Ursachen gehören das Erstarken der AfD und die ständigen geschichtsrevisionistischen Vorstöße aus den Reihen dieser Partei. Ich denke an Björn Höcke mit seiner Forderung nach dem 180-Grad-Wandel in der Erinnerungspolitik oder an Alexander Gauland mit seiner Vogelschiss-Aussage. So wird die Grenze des Sagbaren Schritt für Schritt nach rechts verschoben. Ein weiterer Grund, den wir nicht unterschätzen sollten, sind die medialen Echokammern. Wenn jemand, der nicht genügend Hintergrundwissen hat, auf bestimmte Seiten im Netz stößt oder Kommentare in den Sozialen Medien liest, dann bleiben ganz häufig Geschichtslegenden hängen. Das bedeutet, dass wir insbesondere in den Schulen Medienkompetenz viel stärker vermitteln müssen.

KNA: Sehen Sie durch die angesprochenen Entwicklungen die Gedenkkultur in Deutschland in Gefahr?

Wagner: Ja, aber auch aus anderen Gründen. Unsere Erinnerungskultur ist zu stark auf die Opfer zentriert. Es ist leichter mit Opfern und um Opfer zu trauern, als zu fragen, wie es überhaupt zu den Taten kommen konnte und wie die NS-Gesellschaft funktionierte. Durch eine Auseinandersetzung damit lassen sich wissenschaftlich fundiert aus der Geschichte herausgearbeitet Aktualitätsbezüge herstellen. Nur mit dem Wissen um die damaligen Strukturen lässt sich vermeiden, dass sich Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung in neuer Form wiederholen.

Die Orte der NS-Verbrechen sind und bleiben Orte des Gedenkens an die Opfer, aber sie müssen auch Lernorte sein.

KNA: Wie passt Ihre Wahrnehmung einer Krise der Gedenkkultur mit den steigenden Besucherzahlen zusammen, die viele Gedenkstätten verzeichnen?

Wagner: Gedenkstätten sind touristische Ziele geworden. Jeder kennt die Bilder von Bergen-Belsen, Auschwitz und Buchenwald. Jeder möchte dort einmal gewesen sein. Als Trophäe wird ein Selfie gemacht - sozusagen als Beweis: Ich bin da gewesen. Das erleben wir auch in Bergen-Belsen zunehmend häufiger. Nicht immer steht ein Interesse an der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte dahinter.

Ich will das nicht schlechtreden, und mir sind auch diese Besucher recht. Unsere Aufgabe ist es, darauf zu reagieren und ein Geschichtsinteresse zu wecken.

KNA: Wie kann das gelingen?

Wagner: Bei Gruppen setzen wir beispielsweise statt auf die in vielen Gedenkstätten üblichen kurzen Führungen von anderthalb Stunden stärker auf ganz- oder mehrtägige Formate. Dabei können sich die Teilnehmer im Sinne des forschenden Lernens viel intensiver mit der Geschichte auseinandersetzen.

KNA: Gibt es auch Besucher, die sich um das Erstarken antidemokratischer Tendenzen Sorgen machen und gerade deshalb in die Gedenkstätte kommen?

Wagner: Ja. Es kommen zunehmend Menschen her, um uns zu sagen, wie wichtig sie unsere Arbeit finden. Das sind deutlich mehr als solche, die provokante Fragen stellen oder die historischen Tatsachen leugnen.

KNA: Wie verändert das Sterben der Zeitzeugen die Gedenkstättenarbeit?

Wagner: Die pädagogische Praxis in den Gedenkstätten ist dadurch nicht berührt. Überlebende treten gelegentlich bei Gedenkveranstaltungen auf. Aber der Großteil unserer Besucher hat keinen Kontakt zu ihnen. Mehr Sorgen bereitet mir, dass mit den Zeitzeugen auch ein moralischer und politischer Schutzschirm für die Gedenkstätten wegfällt. Immer dann, wenn es Angriffe auf die Erinnerungskultur gab, haben sich maßgebliche Überlebende zu Wort gemeldet. Das hat uns häufig geholfen.

KNA: Am 15. April steht der 75. Jahrestag der Befreiung von Bergen-Belsen an. Was planen Sie?

Wagner: Wir erwarten zu einer Gedenkveranstaltung rund 120 Überlebende des KZ Bergen-Belsen, dazu noch 50 Personen, die im Camp für Displaced Persons, das nach der Befreiung errichtet wurde, geboren sind. Ich freue mich, dass es noch einmal gelingt, eine so große Zahl von Überlebenden hierher zu bringen. Vielen von ihnen ist die Teilnahme sehr wichtig, weil sie den 15. April als eine Art zweiten Geburtstag wahrnehmen.

Das Interview führte Michael Althaus.


Jens-Christian Wagner / © Michael Althaus (KNA)
Jens-Christian Wagner / © Michael Althaus ( KNA )
Quelle:
KNA
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