Publizist Püttmann mit seinem Rückblick auf 2020

"Und es kam schlimmer"

2020 war ein Jahr, das nicht so schnell aus den Erinnerungen getilgt wird. Der katholische Publizist Andreas Püttmann mit einem Gastkommentar über Kirche, Politik, Gesellschaft - und die Corona-Pandemie 2020.

Kalenderblätter von 2020 und ein Mundschutz / © Tasha Cherkasova (shutterstock)
Kalenderblätter von 2020 und ein Mundschutz / © Tasha Cherkasova ( shutterstock )

"Aus dem Chaos sprach eine Stimme zu mir: ‚Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen.’ Und ich lächelte und war froh. Und es kam schlimmer!" – Wäre die Heimsuchung durch eine Pandemie nicht eine todernste Sache, dann könnte diese beliebte Büroweisheit als Motto über dem ablaufenden Jahr stehen. Hatten wir nicht schon genug Probleme auf dem Planeten Erde und im eigenen Land? Klimawandel, verheerende Brände, Kriege, Hungersnöte, Flucht und Vertreibung, Finanzkrise, Radikalisierung und Polarisierung, sterbende Demokratien?

Und dann bringt 2020 eine Katastrophe, die niemand auf der Rechnung hatte: bis jetzt weltweit etwa 1,8 Millionen Covid-Tote, ein Vielfaches an gesundheitlich Geschädigten; in Deutschland bis jetzt bereits 1,7 Millionen Infizierte und über 30.000 Todesfälle, von denen laut Obduktionsbefunden rund 85 Prozent nicht nur "mit", sondern tatsächlich an diesem aggressiven Virus starben, trotz frühzeitiger und umfassender Präventionsmaßnahmen. Die sozialen und finanziellen Verwerfungen sind noch kaum überschaubar.

Trump dankt ab

Wie nicht anders zu erwarten, wurde die Pandemie zum Lackmustest für die Tauglichkeit politischer Konzeptionen, gesellschaftlicher Wertorientierungen und sogar religiöser Strömungen. Die Wirklichkeitskonstrukte rechtspopulistischer Maulhelden zerschellten an der Unerbittlichkeit von Naturgesetzen.

Wehe dem Volk, das mit einem Trump oder Bolsonaro in die Pandemie ging! Immerhin kostete es den grotesken Narzissten und notorischen Lügner im Weißen Haus das Amt. Einer der wenigen Lichtblicke in diesem Jahr. Unvorstellbar was uns noch geblüht hätte, wäre der Bewunderer Putins und Spalter seiner eigenen Nation für weitere vier Jahre an die Spitze die Weltmacht USA gewählt worden.

Erschreckend bleibt: Die große Mehrheit seiner Partei und seiner Anhänger unterstützte Trumps dreiste Weigerung, seine demokratische Abwahl zu akzeptieren. Am Ende hing das Schicksal dieser großen Demokratie am seidenen Faden des Amtsethos einer Handvoll republikanisch gesinnter Richter am Supreme Court.

Bitter auch die Erkenntnis: Das Ende dieses vierjährigen Albtraums haben wir nicht den US-Christen zu verdanken. Sie entschieden sich wieder – vor allem die Evangelikalen, aber auch die Katholiken – mehrheitlich für den amoralischen, egomanen Kandidaten, der mit einer Bibel vor Kameras posierte und wie kein anderer an den "Vater der Lüge" gemahnt.

AfD, Querdenker und Rechtspopulisten

Auch unsere dilettantischen Politikdarsteller von der AfD erwischte die Pandemie kalt. Sie spaltete ihre Klientel in einen Teil Wirklichkeitsverweigerer, der sich trotzig den "Querdenkern" anschloss (und für Inzidenz-Spitzenwerte und überlastete Krematorien in AfD-Hochburgen mitverantwortlich ist); der andere, noch nicht gänzlich von der Realität emanzipierte Teil ging aus Selbsterhaltungsinteresse lieber mit dem sonst verhassten "Mainstream" auf Nummer sicher. Die Partei sackte von einst bis zu 16 Prozent auf meist unter 10 ab.

Und mit schwindendem Erfolg trat auch der ideologische Grundkonflikt zwischen rechtskonservativen Wutbürgern und Rechtsextremisten offener denn je zutage. Verfassungsschutzämter taten durch die Ausweitung der Beobachtung ein Übriges. Der Übergang von der "Gärung" zur Klärung zwischen Nazis und Deutschnationalen gehört ebenfalls zum positiven Ertrag dieses politischen Jahres. Was aber noch lange nicht heißt, dass mit Letzteren vernünftig Politik zu machen wäre. Selbst die "Gemäßigten" sind noch radikal und zügellos genug, um eine "bürgerliche" Koalition unmöglich zu machen.

Das Paradox der deutschen Rechtspopulisten wird weiter darin bestehen, dass sie Grüne und SPD nahezu flächendeckend in Regierungsverantwortung bringen, im ärgsten Fall gar an der Seite der Linkspartei. Diejenigen, die am 5. Februar in Erfurt einen FDP-Ministerpräsidenten von Höckes Gnaden erkoren, brauchen sich darüber nicht mehr zu echauffieren.

Und die übrigen politischen Lager?

Im Bund stößt ein Linksbündnis weiterhin an eine "gläserne Decke" bei 42 bis 44 Prozent. Der Zeitgeist weht nicht von links, weder national noch international. Die einzige Chance für die deutsche Linke wäre – wieder ein Paradox – ein CDU-Chef Friedrich Merz. Er würde es in seiner Selbstüberschätzung ja auch nicht unter Kanzler machen. Die meisten Delegierten des Wahlparteitags im Januar sind aber wohl realistisch genug, um die 2 bis 3 Prozent, die man mit einem rechtsliberalen Kandidaten vielleicht bei AfD und FDP abwerben könnte, mit absehbar größeren Verlusten in der Mitte zu verrechnen.

12 Prozent der Wähler schwanken zwischen Union und Grünen, 8 zwischen Union und SPD, nur 2 zwischen AfD und Union, fand das Institut für Demoskopie Allensbach heraus. Eine Merz-CDU würde den Merkel-Kredit bei den Mitte-Wählern verlieren und unter 30 Prozent rutschen. Die Kanzlerin steht mit Intelligenz, Besonnenheit, Uneitelkeit, Kompromissfähigkeit, Integrität, Erfahrung und nicht zuletzt ihrer wissenschaftsbasierten Corona-Politik im Zenit ihres Ansehens – und in wohltuendem Kontrast zum Gebaren der "Alphatiere" in Moskau, Washington, London, Budapest und Ankara.

Merkels Erbe ausgerechnet einem unversöhnten Antipoden bar jeder Regierungserfahrung und Teamplayer-Qualität auszuhändigen, wäre noch törichter als das Hü und Hott der SPD, ihren beliebtesten Bundespolitiker als Parteivorsitzenden abzulehnen und im Jahr danach als denkbar besten Kanzler vorzuschlagen. Von der strategischen Sackgasse und ideologischen Engführung, in die Christian Lindner seine FDP geführt hat, wollen wir hier erst gar nicht reden.

Unter der Oberfläche relativer Stabilität erscheint auch die Bundesrepublik offener für Einbrüche politischer Unvernunft als es prima vista erscheinen mag. Dafür spricht etwa der INSA-Befund, dass 29 Prozent der Deutschen (im Osten gar 35%) Angst bekunden, durch die Änderung des Infektionsschutzgesetzes werde die Demokratie in Deutschland ausgehöhlt; nur eine knappe Mehrheit (52%) teilt diese Befürchtung nicht. Die jahrelange Verähnlichung von Demokratie und Diktatur durch rechtspopulistische Hetze hat zu solchen Fehleinschätzungen von Motiven und rechtsstaatlichen Prozessen wesentlich beigetragen.

Misstrauen wird gesät im Kampf gegen die Demokratie, weil deren wichtigste Ressource für Zusammenhalt im Pluralismus Vertrauen ist: in die gemeinsamen Regeln und die grundsätzlich redliche Absicht auch der politischen Kontrahenten. Machen wir uns nichts vor: Auch wenn die politischen Ränder im Jahr 2020 nicht weiter wuchsen, ist die Zukunft der deutschen Demokratie nicht gesichert. Pöbeleien und unparlamentarische Propagandamätzchen durch Abgeordnete und von ihnen eingeschleuste, übergriffige Gäste sind Symptome fortschreitender Verrohung nicht nur in den Subkulturen von Internetforen und Social media.

Und die Kirche?

Hinzu kommen beunruhigende internationale Signale: das kaum noch Hoffnung lassende Auflaufen der Demokratiebewegungen in Belarus, Hongkong und Venezuela, die Brutalität, mit der Erdogan, Putin oder das Mullah-Regime im Iran sich ihrer Gegner entledigen, der erneute Krieg im Kaukasus, islamistische und rechtsextreme Terrorakte wie in Wien, Paris und Hanau, aber auch in den USA und Afrika, illegale Push-Backs von Flüchtlingsbooten selbst durch demokratische Staaten und die fortgesetzten Schleifarbeiten am Rechtsstaat in Polen und Ungarn. Ob der immerhin erreichte EU-"Rechtsstaatsmechanismus" sich als effektiv dagegen erweisen wird, ist noch unklar.

Und die Kirche? Auch hier würde das "Und es kam schlimmer" 2020 leider passen. Dabei hat sie sich in der Pandemie nach meinem Eindruck gut geschlagen. Die Leopoldina lobte "die beiden großen Kirchen" als "besonders regelkonforme Institutionen mit Blick auf die Einhaltung der coronabedingten Abstands- und Hygieneauflagen".

Die seelsorgliche Kreativität in den Gemeinden erlebte ich als groß: mit viel Abstand begehbare große Kirchen mit geistlichen Stationen zum Advent und "Give aways" für zuhause; wasserfest verschweißte religiöse Impulse an Straßenlaternen mit QR-Codes, die zu kirchlichen Internetseiten leiten; von Priestern per Whatsapp versandte Video-Miniaturpredigten zum Sonntag, ethische Orientierungen durch christlicher Wissenschaftler zum Pandemie-Problem "Triage", ansprechend gestaltete Fernsehgottesdienste und vieles mehr.

Bange Fragen hatte ich weniger an das Angebot als an die tatsächliche Nachfrage. Denn der geistliche Grundwasserspiegel im Land sinkt weiter. Nominell ist es noch zur Hälfte christlich, an Weihnachten feiert laut Umfragen aber nur noch ein Viertel der Deutschen die Geburt Jesu. Und fallen kirchliche Konvention und Geselligkeit für längere Zeit weg, hält das Glaubensleben Einzelner oft nicht, was es versprach. Die Pandemie-bedingte "Betriebsunterbrechung" für weite Teile des gemeindlichen Lebens könnte die Gottesdienstbesucherquote auch über die Pandemie hinaus absacken lassen.

Hinzu kommt die schon in der Jahresbilanz 2019 hier beschriebene theologische Polarisierung zwischen "Modernisierern", die zunehmend säkulare, demokratische (und westeuropäische) Maßstäbe an ihre Kirche anlegen, und denen, die "Kirche in ein Museumsstück oder in ein Eigentum einiger weniger" (Papst Franziskus) verwandeln wollen und sich dabei als "heiliger Rest" fühlen, obwohl sie ziemlich unheilig auf andere herabschauen und eindreschen – und sich nicht selten in unheilige politische Allianzen verirren, die auch ihr religiöses Anliegen diskreditieren. Diese beiden Pole des deutschen Katholizismus sind – auch im Episkopat – kaum noch miteinander gesprächsfähig, auch wenn der "Synodale Weg" einen ehrenwerten Versuch dazu unternahm.

Waten im Missbrauchssumpf

Ein Übriges tat das anhaltende Waten im Missbrauchssumpf, gepaart mit und potenziert durch Ungeschicklichkeiten in der Kommunikation, Wankelmut, vereinnahmendem Umgang mit Opfervertretern und andererseits dem Bestreben mancher Kritiker, mit der Aufklärung gleich noch Pflöcke für den eigenen kirchenideologischen Durchmarsch einzurammen.

Am schrecklichsten waren 2020 die Erkenntnisse im Bistum Speyer über einen geradezu bandenmäßig organisierten sexuellen Missbrauch von Heimkindern durch Priester und Politiker, denen Nonnen die Opfer aus dem Kinderheim zugeführt haben sollen, unter Beteiligung eines früheren Generalvikars. Und zwar ab 1963, vor der "sexuellen Revolution". Bei allem Schmutz, von dem man schon wusste: Das schockierte noch einmal heftig. Selbst der bemühteste Verteidiger all des Guten, das durch den Dienst der Kirche immer geschah und bis heute vielerorts und unspektakulär geschieht, droht da demoralisiert zu werden und am Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche zu zweifeln.

Woher kommt dann noch "Resilienz", seelische Widerstandskraft, die Fähigkeit, bedrückende Lebenssituationen ohne anhaltende, lähmende Beeinträchtigung zu überstehen? Für den Christen durch Verankerung im geistlichen Fundament, im Zeugnis der Propheten und in Jesu Lehre und Liebestat am Kreuz, wie sie von den Evangelien berichtet werden. "Denn stark wie der Tod ist die Liebe… Mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen, auch Ströme schwemmen sie nicht hinweg" (Hoheslied 8, 6-7), nicht mal Jaucheströme menschlicher Bosheit, Zügellosigkeit und Versündigung am Mitmenschen in der Kirche.

Man kann den von Skandalen und Pathologien der Religion abgestoßenen Katholiken heute vielleicht mit Sisyphos vergleichen. Wie er jeden Morgen aufsteht in dem Entschluss, am Werk der Liebe mit zu bauen, seinen Stein hoch zu tragen und dem (Ab-)Hang zum Bösen – zuerst bei sich selbst – bestmöglichen Widerstand zu leisten. "Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen", meinte Albert Camus. In dem Sinne: Auf ein besseres, glückliches, segensreiches Jahr 2021 in Christengemeinde und Bürgergemeinde!

Dr. Andreas Püttmann

Zum Autor: Dr. phil. Andreas Püttmann ist Politikwissenschaftler und freier Publizist. Er lebt in Bonn. Seine Themenschwerpunkte sind politische und ethische Grundsatzfragen, Religionssoziologie und Kirchenpolitik.

 

Quelle:
DR