Medizinstudenten vermissen Unterricht am Krankenbett

"Trotzdem sind wir noch privilegiert“

Abhören, Blutdruck messen, Puls fühlen. Das Medizinstudium lebt vom unmittelbaren Patientenkontakt. Doch Untersuchungen und Prüfungen finden gerade nur online statt. Anstrengend ist das und kräftezehrend, aber besser als nichts.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Medizinstudenten (shutterstock)

Wer eine Leiche sezieren kann, ohne umzukippen, hat den ersten Stress-Test bereits erfolgreich bestanden. Beim Präparierkurs jedenfalls zeigt sich, wer cool bleibt oder wem Arbeiten am leblosen menschlichen Objekt eher schwer fällt. Das Gemisch aus Leichengeruch und Formalin, dem Konservierungsmittel, mit dem Körperspenden für medizinische Zwecke haltbar gemacht werden, oder die Knochensäge, mit der Brustkorb und Schädel geöffnet werden, sind noch lange nicht jedermanns Sache. Auch das Skalpell ansetzen, um den Bauchraum des Toten zu öffnen, erfordert nicht selten Überwindung – und funktioniert nun mal nicht virtuell. Digitale Semester hin oder her – manches lässt sich eben kaum eins zu eins ins Netz übertragen, auch wenn die Unis gerade ausschließlich auf Online-Unterricht setzen und damit weitgehend den Betrieb am Laufen halten.

Claudius Gatzweiler und Linus Kruse gehören zu den Studierenden, denen der sogenannte "Präp-Kurs“ eher nichts ausmacht. Im Gegenteil. Vom ersten Semester ihres Medizinstudiums an hat sie begeistert, wie anschaulich und – im doppelten Wortsinn – begreifbar dadurch die menschliche Anatomie wird. "Denn kein Körper sieht beim Präparieren so perfekt wie im Lehrbuch aus, wenn man das Fettgewebe von der Haut oder die Blutgefäße von den Nerven trennt“, erklärt Claudius, der an der Uni in Witten-Herdecke den Modellstudiengang Medizin belegt hat und Anfang April ins vierte Semester kommt. "Aber wenn man schon mal ein Gehirn in der Hand gehalten oder verschiedene Gewebeschichten durchtrennt hat, bekommt man ein Gefühl dafür, wie faszinierend der menschliche Organismus in seiner Komplexität ist und wie groß dieses Wunder Mensch“, schwärmt er. "Dieser Kurs ist eine erste Annäherung an das, was später einen Arzt ausmacht; hier verknüpft sich einprägsam Theorie mit Praxis.“

Für Medizinstudierende patientennaher Unterricht elementar

"Man muss etwas real anschauen, anfassen und erleben können, um die tieferen Zusammenhänge zu verstehen“, findet auch Kommilitone Linus, der gerade ganz viel vermisst, weil die Praxisanteile im Medizinstudium in den letzten Semestern coronabedingt stark reduziert oder sogar eingestellt werden mussten und ein Großteil davon – soweit überhaupt machbar und sinnvoll – nun als "Trockenübung“ fortgesetzt wird. Schließlich sollen wesentliche Module des Studiums nicht auf unbestimmte Zeit verschoben, sondern der Lehrplan weitgehend eingehalten werden.

Die Corona-Pandemie hat das Leben aller Studierenden in Deutschland mehr oder weniger auf den Kopf gestellt. An vielen Hochschulen fällt Präsenzlehre weitgehend aus, dagegen stehen Digitalformate hoch im Kurs. So sind gerade die Studentinnen und Studenten der Humanmedizin, für die patientennaher Unterricht elementar ist, besonders stark von Einschränkungen betroffen. Erst recht an einer Uni wie Herdecke, zumal hier – anders als an den meisten staatlichen Hochschulen – vom ersten Tag an praxisorientiert gelernt wird. Das heißt, schon die Erstsemester erarbeiten sich mit geradezu detektivischem Spürsinn einzelne Krankheitsbilder und erstellen schon früh unter Bedingungen eines klinischen Alltags die entsprechenden Diagnosen; Lernstoff, der sehr bewusst auf Unterrichtseinheiten am Krankenbett hin angelegt ist.

Hochschulbetrieb hat sich flexibel neuer Situation angepasst

Doch gerade Patientenkontakte dürfen schon seit einem Jahr nicht stattfinden. "Normalerweise haben wir Kurse, in denen wir gegenseitig an uns selbst Untersuchungsmethoden ausprobieren“, berichtet Claudius. „In höheren Semestern machen wir das mit Simulationspatienten. Anamnesegespräche – also die erste Verständigung zwischen Arzt und Patient – üben wir in der Regel mithilfe eines eigens zur Verfügung stehenden Schauspielers. Denn sich persönlich gegenüber zu sitzen gibt einem die Möglichkeit, den Patienten ganzheitlich wahrzunehmen und sich einen Eindruck davon zu verschaffen, in welcher Situation er sich aktuell befindet – mit allem, was dazu gehört. Diese spannenden Elemente aber, die wir sonst in Präsenz erleben, kann ein Online-Seminar nicht ersetzen“, sagt Claudius.

"Auch die Zuordnung noch unbekannter Krankheiten anhand fiktiver Fallbeispiele – wir nennen das problemorientiertes Lernen – ist sonst fester Bestandteil des vorklinischen Studiums, findet derzeit aber nur am Bildschirm statt. "Das ist natürlich ungleich nerviger, weil per Zoom einfach manches auf der Strecke bleibt und diese Kommunikation vieles unnötig kompliziert macht.“ Damit fehle die unmittelbare Anschaulichkeit. "Aber den anderen geht es ja genauso“, tröstet sich der 23-Jährige.

Grundlagenvermittlung auch am Bildschirm möglich

"Die Umstellung auf digitales Lernen fiel erst einmal schwer, als wir von einem Tag auf den anderen auf Online-Seminare umschwenken mussten“, erinnert sich Linus an den Beginn der Pandemie vor einem Jahr. Trotzdem stellt er den Verantwortlichen gute Noten aus und lobt, wie flexibel sich der Hochschulbetrieb in Herdecke der neuen Situation angepasst hat. „Es wurden umgehend die notwendigen Voraussetzungen geschaffen, um nahtlos weiterstudieren zu können. Mittlerweile haben wir Erfahrung darin, dass sich zumindest die Grundlagen in der Anatomie genauso gut via Bildschirm vermitteln lassen.“

Sogar die letzte Prüfung in Neurologie, zu der sonst zwangsläufig eine Untersuchung am Patienten gehöre, habe auf diese Weise stattfinden können. "Auch wenn es ungewohnt und doppelt aufregend ist, nur so zu tun, als säße man unmittelbar neben einem echten Patienten, und man für diese fiktive Situation viel Phantasie braucht. Denn wichtige Untersuchungsansätze werden dann, so komisch es klingt, ausschließlich im Konjunktiv formuliert. Etwa: Ich würde jetzt mit Herrn A. eine Atemübung machen und bei Frau B. eine Sensibilitätsstörung diagnostizieren.“ Das sei schon etwas skurril, aber letztlich eine Frage der Gewöhnung, so Linus.

Wohnen in einer WG zu Corona-Zeiten von Vorteil

Ausgerechnet das Proprium dieser besonderen Universität, das praktische Lernen von Anfang an, fehle gerade ungemein, räumt der Medizinstudent ein. "Trotzdem ist Weitermachen unter diesen erschwerten Bedingungen immer noch die beste Option. Auch die Profs geben ihr Bestes und zeigen viel Wohlwollen.“ Das mache ihn unterm Strich sehr dankbar. Fünf Jahre habe er auf seinen Studienplatz gewartet, erzählt Linus, und zwischenzeitlich eine Pflegeausbildung absolviert. "Den Spaß am Studium lasse ich mir von Corona jedenfalls nicht nehmen.“ Auch wenn er die vielen anderen Kontakte, den "sozialen Kitt“, wie er das nennt, an allen Ecken und Enden schmerzlich vermisse. "Auf Dauer wieder mehr Freiheiten – klar wünsche ich mir das. Aber trotz allem“, betont der 24-Jährige, "sind wir immer noch privilegiert. Immerhin dürfen wir überhaupt weiterstudieren.“

So empfindet das auch Claudius, der hofft, dass das nun beginnende Sommersemester zumindest wieder hybrid – also teils in der Uni, teils im Homestudying – stattfindet und man auf diese Weise den einen oder anderen Freund wiedertreffen kann. "Das Prinzip in Herdecke ist ja, dass wir wie in einem Klassenverband studieren, unser Studium im engen Austausch miteinander gestalten und ständiges Feedback gefragt ist. Dazu aber fehlen gerade die wesentlichen Voraussetzungen. Den Alltag einer medizinischen Fakultät habe ich bisher kaum erlebt. Auch unser Studium fundamentale – das Hineinschnuppern in ganz andere Bereiche wie Musik, Theater und Kunst und damit ein wichtiger Ausgleich – existiert im Moment nur als Online-Angebot.“

Uni-Aufruf gefolgt, das Gesundheitssystem zu unterstützen

Im Übrigen habe er sich irgendwie auch daran gewöhnt, Sozialkontakte auf ein Minimum zu beschränken und sich nur im allerkleinsten Kreis auf eine Prüfung vorzubereiten. Umso wichtiger werde eine solche Lerngruppe auch zwischenmenschlich, weil sie fehlende Kontakte ausgleiche und das Online-Studium insgesamt erträglicher mache, findet er. "Trotzdem respektieren wir die geltenden Abstandsregeln“, ergänzt Linus. „Wir haben lange diskutiert, was geht und was nicht – zum Beispiel auch in einer WG. Denn Verantwortung ist für uns ein wichtiges Thema. Wenn nicht wir das explodierende Infektionsgeschehen ernst nehmen, wer dann.“

Dazu gehört auch, dass die beiden Medizinstudenten dem Aufruf ihrer Uni ganz am Anfang der Krise gefolgt sind, da einzuspringen, wo das lokale Gesundheitssystem gerade am dringendsten Unterstützung benötigt oder auch sonst Not am Mann ist. Das kann auch der Einsatz bei einer Hotline für Menschen sein, die sich in dieser existenziellen Krise alleine gelassen fühlen und einfach mal jemanden zum Reden brauchen.

Im Impfzentrum oder auf einer Coronastation mitarbeiten

Mitarbeit in Corona-Zeiten sei trotzdem nicht überall gefragt, stellt Claudius inzwischen fest. "In den Krankenhäusern jedenfalls herrscht große Angst vor Ansteckungsgefahr. Bei der Vergabe von Pflegepraktika stößt man auf viel Widerstand. Dabei wäre das eigentlich eine Win-win-Situation.“ Doch er will nicht locker lassen. Gerade erst hat er bei seinem Pflichtpraktikum in einer Praxis für Allgemeinmedizin den Impfschein gemacht hat und darf nun in einem Impfzentrum seine Dienste anbieten. Beworben hat er sich bereits. Nun heißt es abwarten.

Linus dagegen hat Glück. Bevor es in den zweiten harten Lockdown ging, hat er die Zusage für Nachtschichten auf einer Corona-Station bekommen. "Hier kann ich Verantwortung übernehmen“, sagt der gelernte Krankenpfleger, „auch außerhalb des Studiums. Außerdem lerne ich viel über schwere Verläufe bei Covid-Patienten, aber auch, dass man bei entsprechender Therapie gute Chancen hat, wieder gesund zu werden. Eine solche Erfahrung wünsche ich jedem meiner  Kommilitonen auch. Denn in solchen Momenten spürt man hautnah, wofür Durchhalten auf einer Durststrecke gut ist.“


Claudius Gatzweiler wartet auf seinen ersten Einsatz im Impfzentrum / © Beatrice Tomasetti (DR)
Claudius Gatzweiler wartet auf seinen ersten Einsatz im Impfzentrum / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Linus Kruse arbeitet in den Semesterferien auf einer Corona-Station / © Beatrice Tomasetti (DR)
Linus Kruse arbeitet in den Semesterferien auf einer Corona-Station / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR