Trotz Grippe-Notstand sind die Mexikaner auf der Suche nach Normalität

Jemand muss den Bus fahren

Epidemie-Alarm in Mexiko-Stadt: Schulen, Museen, Fußballstadien, Kirchen, Kinos und die meisten Restaurants sind geschlossen. Die Behörden raten, Abstand zu den Mitmenschen zu halten, sich häufig die Hände zu waschen und bei Begrüßung und Abschied auf die üblichen Wangenküsschen zu verzichten. Selbst die Messe in der Kathedrale, einem der Wahrzeichen Mexikos, fand am vergangenen Sonntag unter Ausschluss der Gläubigen statt. Das gab es seit den Bürgerkriegswirren vor 90 Jahren nicht mehr.

Autor/in:
Matthias Knecht
 (DR)

"Um jeden Preis Ansteckungen verhindern», heißt die Devise, die Mexikos Präsident Felipe Calderón ausgab, nachdem am 23. April erstmals das neue Influenza-Virus A/H1N1 wissenschaftlich bestätigt war. Zuerst war von 159 Toten durch die Schweinegrippe die Rede, am Mittwoch früh waren sieben Fälle bestätigt und 1.300 Patienten unter Beobachtung. Das Gesundheitsministerium sieht ermutigende Signale, die Zahl der neuen Verdachtsfälle sinkt. Alle Zahlen gelten nur unter Vorbehalt. Mexiko verfügt noch nicht über die Labors, um das Virus zu bestimmen, sondern ist dabei auf die USA angewiesen.

Dafür dämmert die Einsicht, wie hoch der Preis ist, Ansteckungen zu verhindern. Viele der 22 Millionen Hauptstadtbewohner klagen über immense Alltagsprobleme: Eltern können nicht arbeiten gehen, weil die Kinder daheim sind statt in der Schule. Einzelhandel und Gastronomen verzeichnen bis zu 80 Prozent Umsatzminus. Vor dem Ruin stehen viele der Straßenhändler, denen Oberbürgermeister Marcelo Ebrard fast gänzlich ihre Tätigkeit verboten hat. Wirtschaftsverbände schätzen die täglichen Umsatzausfälle auf rund 43 Millionen Euro.

Experten warnen bereits vor steigender Inflation und schrumpfender Wirtschaft. Der bereits vor der Epidemie befürchtete Rückgang des Bruttoinlandprodukts um drei bis vier Prozent könnte noch schärfer ausfallen. Die Währung Peso verlor zehn Prozent ihres Wertes, die Börsenkurse großer mexikanischer Unternehmen gaben nach. Besonders düster sind die Prognosen im Tourismus, der mit 13,3 Milliarden US-Dollar jährlich eine der Hauptdevisenquellen Mexikos ist.

Die meisten Bürger des krisenerprobten Landes lassen die Notmaßnahmen geduldig und in großem Vertrauen in die Regierung über sich ergehen. Das Ergebnis ist eine beängstigende Leere in der Metropole. «Es ist unheimlich, wie in einem Hollywoodfilm», beschreibt die seit Jahren in Mexiko lebende Unternehmerin Verena Knopp die Stimmung. Die Deutsche spricht von «Panikmache» und sagt: «Man guckt schon alle Menschen komisch an, die einen Schnupfen haben.»

Knopp ist direkt mit den Ängsten der Touristen konfrontiert, denn sie betreibt eines der größeren Reisebüros in der Hauptstadt, SAT Mexico. Jetzt muss sie nicht nur eine Flut von Stornierungen verkraften, sondern auch die noch im Land befindlichen Reisegruppen betreuen, die vom Ausbruch der Grippe überrascht wurden: «Die meisten haben einfach nur Angst.»

Einen Kontrapunkt gegen das allgemeine Krisengefühl setzt der deutschsprachige katholische Pfarrer Ralf Hirsch, der weiter seine Messe mit einer kleinen Zahl von Gläubigen feiert: «Es gibt ein großes Bedürfnis nach Normalität. Der größte Teil der Mexikaner kann nicht aus seinem Alltagsleben aussteigen und will es auch nicht. Irgendjemand muss den Bus fahren. Irgendjemand muss das Essen bringen. Und das ist gut so.»

Im Umgang mit dem Mundschutz macht sich mittlerweile ein wenig Nachlässigkeit breit. Vielerorts sind die Masken zwar ausverkauft, aber mancher Passant, der ihn hat, lässt ihn lässig um den Hals baumeln. Geradezu erfrischend normal ging es für einen kurzen Augenblick am vergangenen Montag zu, als auch noch der Ausläufer eines Erdbebens Mexiko-Stadt traf. Die an solche Ereignisse gewohnten Mexikaner verließen sofort Büro- und Wohngebäude.

Als klar war, dass kein großer Schaden entstanden war, herrschte für wenige Minuten wieder das gewohnte Alltagsbild. Die Menschen blieben auf der Straße, schwatzten, lachten und rauchten, als wollten sie kollektiv gegen alle Ängste aufbegehren. «Tausende von Menschen liefen auf die Straßen. Das hat richtig gut getan, wieder Menschenmassen zu sehen», sagt Knopp.

Die mexikanischen Wirtschaftsverbände haben am Dienstag erstmals die Notstandsmaßnahmen der Regierung als übertrieben kritisiert. Die Restaurants im historischen Zentrum der Hauptstadt gehen indes mit Verboten auf mexikanische Weise um: Sie ignorieren sie und bedienen ihre Gäste weiter am Tisch. Und die Touristik-Unternehmerin Knopp glaubt die Epidemie schon bald besiegt: «Den nächsten Monat schreiben wir ab. Aber dann werden die Leute schnell wiederkommen.»