Der schottische Blick auf den Brexit-Streit

Trotz, Enttäuschung und Sorge

In weniger als zwei Monaten sollen die Briten die EU verlassen. Sie setzen auf Nachverhandlungen, doch Europa lehnt ab. Beäugt wird die Entwicklung in Schottland, wo bereits in der Vergangenheit über die Unabhängigkeit nachgedacht wurde.

Unsicherheit zwei Monate vor dem geplanten Brexit / © David Cliff (dpa)
Unsicherheit zwei Monate vor dem geplanten Brexit / © David Cliff ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie groß ist denn bei Ihnen in Schottland aktuell die Sorge?

Pastor Thomas Jantzen (Pfarrer der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Edinburgh): Das Paradoxe ist ja: Den No-Deal will ja eigentlich gar keiner. Und es ist in der Tat die Frage, ob er im Endeffekt noch eintreten wird. Die Sorge der schottischen Regierung ist die, dass im Falle eines radikalen Austritts einfach alle Zuständigkeitsbereiche, die bisher in Brüssel lagen, nach Westminster gehen und dass Schottland dann zunehmend zentral von England regiert wird. Die Schotten haben ja einen gewissen unabhängigen Status und befürchten, dass der eingeschränkt wird. Das ist die große Sorge der schottischen Regierung.

DOMRADIO.DE: Das sieht man auch im Abstimmungsverhalten. Immerhin haben ja im Jahr 2016 auch rund zwei Drittel - also ganze 62 Prozent - in Schottland für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt, so viel wie in keinem anderen Landesteil des Vereinigten Königreichs. Können Sie sich denn vorstellen, dass viele - vielleicht auch ein bisschen aus Trotz - einer Unabhängigkeit Schottlands jetzt wieder zustimmen würden?

Jantzen: Trotz ist glaube ich das richtige Stichwort. Es ist eine gewisse Enttäuschung da, auch in dem Prozess der Verhandlungen nicht genügend wahrgenommen worden zu sein, weil die Tories oder Theresa May das relativ alleine gemacht haben. Ob dieser Trotz im Endeffekt wirklich umgesetzt wird, ist die Frage. Es könnte ungefähr genauso knapp werden wie beim Referendum zum EU-Austritt. Aber der Wille wächst - das glaube ich schon.

DOMRADIO.DE: Sie betreuen ja als evangelischer Pfarrer zusammen mit Ihrer Frau mehrere Gemeinden. Ist denn da der Brexit auch Thema, mit dem Sie in der Seelsorge auch konfrontiert werden?

Jantzen: In der Seelsorge im engeren Verhältnis - dass sich also verzweifelte Personen an mich wenden - werde ich damit noch nicht konfrontiert. Aber im Gespräch ist das immer wieder ein Thema. Wir haben jetzt auch schon einige Gemeindemitglieder; die zurück nach Deutschland gegangen sind. Einmal, weil sie vielleicht einen Zeitvertrag hatten und die Firma gesagt hat: "Wir verlängern den jetzt mal nicht, denn wir wissen nicht, wie es weitergeht." Andere haben gesagt: "Mir gefällt die ganze Stimmung hier nicht mehr. Ich habe in Deutschland oder in einem anderen europäischen Land eine berufliche Perspektive, die gleichwertig ist. Und dort habe ich diese ganze dämliche Diskussion nicht, die ja auch ein bisschen ausländerfeindlich ist, im weitesten Sinne. Ich geh weg." Das gibt es durchaus.

Es gibt auch hier und da Informationsveranstaltungen über die möglichen Folgen des EU-Austritts für die EU-Bürger. Wir haben jetzt in einer Gemeinde in Nordengland, die wir auch betreuen, in Newcastle, Ende des Monats einen Brexit-Informationsabend. Dort geben Juristen aus Großbritannien dann auch Informationen. Und es gibt immer mehr Menschen in meinem Umfeld, die einen britischen Pass beantragen. Ich höre immer wieder Leute, die sagen, sie haben jetzt auch die britische Staatsbürgerschaft. Einfach, um sich abzusichern, damit einem nichts passieren kann, was auch immer kommt.

DOMRADIO.DE: Und wenn es jetzt tatsächlich so käme, dass Großbritannien ungeordnet aus der EU ausscheidet - würden Sie dann in Schottland bleiben wollen?

Jantzen: Ich bin ja dienstlich entsandt. Es ist also nicht nur meine private Entscheidung. Erst einmal würden sich die rechtlichen Voraussetzungen ändern. Im Moment bin ich einfach hier hingezogen, weil ich EU-Bürger bin und kann in Europa wohnen und arbeiten, wo ich möchte. Und dann müsste ich gucken, welchen Status ich habe: Brauche ich ein Visum? Darf ich hierbleiben? Es ist ein gewisser Frust. Unsere Dienstzeit hier endet sowieso in zwei, drei Jahren. Und es könnte sein, dass das unser Abreisen beschleunigt. Aber wir fühlen uns hier in Schottland, wo die Stimmung ja ganz anders und viel positiver ist, sehr wohl. So dass ich das eigentlich im Moment nicht sehe, dass wir sauer sind und abreisen.

Das Interview führte Verena Tröster. 


Quelle:
DR