Thomas Blatt entkam als 15-Jähriger aus dem NS-Vernichtungslager - Hoffnung auf Geständnis von Demjanjuk

Der Zeitzeuge von Sobibor

Thomas Blatt hat das Vernichtungslager Sobibor überlebt - und es hat sein ganzes weiteres Leben geprägt. Als 15-Jährigem gelang dem Juden während eines Aufstandes in dem Lager in Polen die Flucht. Ein halbes Jahr hatte er 1943 dort verbracht. Seine Familie, seine Eltern und sein jüngerer Bruder, wurden gleich nach der Ankunft im Lager von ukrainischen Wachmännern mit Schlägen und Bajonettstichen in die Gaskammer getrieben. "Sie hatten dort die Aufgabe, Menschen zu ermorden", betont Blatt. Einer dieser Wachmänner soll zu genau dieser Zeit John Demjanjuk gewesen sein.

Autor/in:
Ulrich Meyer
 (DR)

Seit Dienstag sitzt Demjanjuk in München in Untersuchungshaft, weil ihm Beihilfe zum Mord an 29.000 Menschen in Sobibor vorgeworfen wird. Der inzwischen 82 Jahre alte Blatt ist extra wegen Demjanjuk aus Kalifornien nach München geflogen - in der Touristenklasse, wie er betont - und hat bei der Staatsanwaltschaft als Zeuge ausgesagt. Er will, dass Demjanjuk sich seiner Verantwortung stellt. «Vielleicht sagt er diesmal die Wahrheit», hofft Blatt, der auch erwägt, als Nebenkläger im geplanten Prozess gegen Demjanjuk aufzutreten. «Seine Aussage ist sehr wichtig. Er war im Zentrum der Todesmaschinerie», sagt Blatt in einer Mischung aus Deutsch und Englisch.

Auch Blatts Münchner Anwalt Stefan Schünemann setzt auf Einsicht bei Demjanjuk. Bislang sprach der 89-jährige Beschuldigte immer von einem Missverständnis. Er sei gar nicht Wächter in Sobibor gewesen, sondern nur landwirtschaftlicher Arbeiter und Kriegsgefangener. Amtliche Dokumente, wie Demjanjuks Dienstausweis, besagen das Gegenteil. Schünemann hofft, dass Demjanjuk das einsieht und ein Geständnis ablegt. Eine Gefängnisstrafe müsse der alte Mann dann wohl gar nicht befürchten, vermutet der Anwalt. Blatt appelliert an Demjanjuk: «Er verdient Gnade, wenn er die Wahrheit sagt.» Angesichts der vielen Holocaust-Leugnungen gehe es für die Geschichtsschreibung vor allem darum, dass ein Täter die geschehenen Verbrechen bestätige.

Nach seiner Flucht aus dem Lager lebte Blatt bis 1957 weiter in Polen. Handschriftlich fasste er dort seine Erlebnisse zusammen. Doch bei seinem Versuch, nach Israel auszuwandern habe ein Grenzoffizier versucht, ihm das Manuskript abzunehmen. «Ich hatte geschrieben, dass auch die Kommunisten Juden ermordet haben», berichtet Blatt. Und genau diese Seite schlug der polnische Leutnant bei der Kontrolle auf. Blatt verzichtete zunächst auf die Ausreise, ließ seine Notizen über die israelische Diplomatenpost verschicken und verließ erst dann Polen.

In Israel arbeitete er als Baggerfahrer und tippte seine Erlebnisse auf einer geliehenen Schreibmaschine ab. Doch eine Veröffentlichung scheiterte. Deshalb ging er 1959 in die USA. Dort lernte er «ein amerikanischen Mädchen» kennen, gründete eine Familie und bekam einen Sohn und eine Tochter. Seinen Lebensunterhalt verdiente Blatt mit der Reparatur von Autoradios in einer Fabrik, bis er dann seinen eigenen Laden für Radios aufmachte. Doch einen neuen Sinn in seinem Leben habe er nicht gefunden, räumt Blatt heute ein. Seine heutige Ex-Frau habe bei der Scheidung gesagt: «Wir waren 20 Jahre verheiratet und du hast nicht an einem Tag nicht über Sobibor gesprochen.»

Auch Blatt, der, wie er selbst sagte, immer gedacht hatte, dass er ein relativ normales Leben geführt habe, räumt heute ein: «Ich bin nicht normal, wegen Sobibor, wegen des Holocaust. Zentraler Punkt meines Lebens ist Sobibor.» In seiner Freizeit las er Bücher über den Holocaust. Und auch in seinen Träumen lassen den 82-Jährigen die Erlebnisse als 15-Jähriger nicht los. »Wenn ich träume, leide ich immer noch sehr real«, erzählt Blatt.

1997 veröffentlichte er schließlich in den USA seine Autobiografie, die 2000 in Deutschland unter dem Titel »Nur die Schatten bleiben - Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibor« im Aufbau Taschenbuch Verlag erschien. Derzeit sammelt Blatt Geld für eine Wanderausstellung über das Vernichtungslager. Und er wartet auf den Prozess gegen Demjanjuk. «Er ist alt und hat ein gutes Leben gehabt bisher. Ich habe meine gesamte Familie verloren. Das ist nicht gerecht.»