DOMRADIO.DE: Sie lehren an der Uni Freiburg und forschen dort auch zu Fragen von Rechtspopulismus. Wenn der Bundeskanzler jetzt so pauschal über Migranten spricht, wie er das mit seinen Stadtbildäußerungen getan hat, ist das nicht Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten im Land?
Ursula Nothelle-Wildfeuer (Professorin für christliche Gesellschaftslehre): Das muss man meines Erachtens so sagen. Es hat sich viel Widerspruch formiert zu dieser populistischen Aussage. Denn Merz hat sich ohne jede Differenzierung geäußert: Die, die nicht in diese wie auch immer geprägte Vorstellung vom Stadtbild passen, seien abzuschieben.
Es ist ein zentrales Charakteristikum von Populismus, Einteilungen in schwarz oder weiß, dunkel oder hell, deutsch oder nicht deutsch vorzunehmen. Deswegen glaube ich, dass diese Äußerungen sehr wohl Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten in diesem Land sind.
Ich befürchte auch, dass der Kanzler mit diesem Stil Menschen, die er damit gewinnen will, eher in die Arme der Rechtspopulisten treibt. Denn diese Menschen wählen doch lieber das Original. Was er nach meinem Empfinden hätte tun können und was notwendig gewesen wäre, wäre gewesen, tatsächlich Probleme zu benennen. Das aber würde Differenzierung voraussetzen. Dann hätte er sicher sagen können, dass wir an bestimmten Punkten sofort Abhilfe schaffen können, dass Anderes ein bisschen dauern wird und wir für wieder andere Themen keine endgültige Lösung haben. Eine solche Differenzierung wäre ein Weg gewesen, den Menschen zu zeigen: "Wir nehmen eure Sorgen ernst, aber wir lassen uns nicht von der Angst vor der AfD zu deren Marionette machen."
DOMRADIO.DE: Merz hat im Nachhinein versucht, ein wenig zu differenzieren. Aber in der Tat hat er sich einerseits zwar scharf von der AfD abgegrenzt, andererseits aber doch wie einer aus ihren Reihen gesprochen. Wie passt das zusammen?
Nothelle-Wildfeuer: Meines Erachtens gar nicht. Er grenzt sich ab, wenn er danach gefragt wird. Er grenzt sich ab, wenn in seiner eigenen Partei die Debatte aufkommt und er merkt, die Stimmung ruft danach. Aber er konkretisiert diese Abgrenzung an keiner Stelle. Sie wird in seinen Politikvorschlägen nicht deutlich, die Abgrenzung zeigt sich nicht in ihrer Wirksamkeit. Meines Erachtens müsste sie sich zeigen in einer anderen Rede über die Menschen, die in unserem Land leben. Und da geht es eben nicht nur um diejenigen, die einen deutschen Pass haben.
Im Namen seiner Partei steht das ‚C‘ für christlich – und christlich würde in diesem Zusammenhang doch bedeuten, gerade nicht über Menschen zu reden, als seien sie Störfaktoren, die nun aus dem Stadtbild zu beseitigen sind. Christlich würde bedeuten, nicht so zu reden, als würden äußere Merkmale wie Haut- oder Haarfarbe ausreichen, um Menschen klassifizieren zu können.
Warum bezieht er sich nicht auf Zahlen und Statistiken? Warum zeigt er nicht auch die positiven Konsequenzen von Migration auf? Außerdem würde ich fragen, ob nicht die Sorge für den Zusammenhalt eine zentrale Aufgabe eines Bundeskanzlers ist und er mit dem, was er da formuliert hat, nicht eher spaltet.
DOMRADIO.DE: Schon im Wahlkampf hatte die Union sich einen deutlich schärferen Kurs gegen illegale Migration auf die Fahnen geschrieben. In der Regierung hat sie einiges bereits durchgesetzt, wie die Grenzkontrollen oder die Abschiebungen von Straftätern nach Afghanistan zum Beispiel. Stellen sich CDU und CSU damit nicht klar gegen das Gebot der Menschlichkeit – gerade auch Migrantinnen und Migranten gegenüber, wie es Papst Leo predigt und vor ihm natürlich auch Papst Franziskus gepredigt hat?
Nothelle-Wildfeuer: Ich denke, beide Päpste sind tatsächlich sehr deutlich in der Frage nach dem Umgang mit Migranten und Migrantinnen. Beide Päpste machen zwar keine kleinteiligen Politikvorschläge. Aber Leo XIV. hat den US-amerikanischen Bischöfen gerade sehr deutlich ins Gewissen geredet, wofür sie sich einsetzen sollen, wofür sie stehen.
Im Netz kursiert gerade auch eine beeindruckende Rede von Kardinal Cupich aus Chicago – für den Schutz von Menschen, die ohne Papiere angetroffen werden. Da sehen wir konkret, was dieses Christliche heißen kann. Nun ist eine Bischofsposition etwas anderes als eine Politikerposition; wir haben auch keine amerikanischen Zustände und sollten uns davon deutlich abgrenzen. Aber ich glaube schon, dass der Grundgedanke, dass alle Menschen die gleiche Würde haben und alle Menschen in ihrer Würde zu schützen sind, eine andere Rede hervorbringen würde als das, was wir momentan hören.
Ganz konkret kann ich nicht nachvollziehen, warum man Rückführungen nach Afghanistan macht, also in ein Land, von dem wir wissen, wie sie dort mit Frauen und Mädchen umgehen. Wir wissen auch, dass bestimmte Tatbestände, die wir als Verbrechen ahnden, in Afghanistan nicht als solche gelten. Wenn wir Straftäter dorthin abschieben, nehmen wir also in Kauf, dass sie dort wieder frei sind und in ihrem eigenen Land Verbrechen begehen können, Vergewaltigungen beispielsweise.
Das ‚C‘ für christlich bedeutet sicher nicht, dass es gar keine Grenzen und Mauern geben darf. Sicher wird es Menschen geben, die nicht hierbleiben können, die wieder zurück in ihre Herkunftsländer müssen oder dorthin, wo sie zuerst ihren Fuß in Europa hingesetzt haben. Aber der Stil und der Ton machen den Unterschied. Zur Beschwichtigung der Bevölkerung Menschen abzuschieben, die man an ihren Arbeits- oder Ausbildungsstätten abholt, weil man ihrer dort leicht habhaft werden kann und sie dann öffentlichkeitswirksam abschieben kann, ist weder notwendig noch richtig. Menschen abzuschieben, die hier integriert sind, schadet dem Vertrauen in den Staat sehr grundsätzlich.
DOMRADIO.DE: Leo XIV. hat sein erstes Lehrschreiben der Liebe zu den Armen gewidmet. Die Union dagegen will als erstes bei den Ärmsten der Gesellschaft sparen, also den Bezieherinnen und Beziehern des Bürgergeldes, das bald Grundsicherung heißen soll. Betreibt sie damit nicht eine antikatholische Sozialpolitik?
Nothelle-Wildfeuer: Ich glaube, hier gilt Ähnliches wie bei den Fragen zum Umgang mit Migration. Es gibt eine breite Palette dessen, was alles katholische Sozialpolitik sein kann, da kann es unterschiedliche Positionen geben. Aber bei den Armen zu sparen, also bei denen, die ohnehin kaum über die Runden kommen, ist weder unter ökonomischen noch unter ethischen Gesichtspunkten das Sinnvollste.
Hinzukommt die rhetorische Begleitmusik, also all diese Äußerungen, die Deutschen arbeiteten nicht genug, die Generation Z sei faul etc. … Da haben wir wieder das gleiche pauschale, populistische Muster wie bei den Migrationsfragen. ‚Katholisch‘ oder ‚christlich‘ ist kein Patentrezept für gelingende Politik, nicht in einer Gesellschaft, in der die Christen nicht mehr die Mehrheit haben, aber auch prinzipiell nicht. Zu grundsätzlichen Aussagen zu Würde und Rechten der Menschen muss sicher der Blick auf die Detail- und Sachprobleme kommen. Aber ich würde schon sagen, in solchen Äußerungen werden weder sachliche Differenzierung noch christliche Werte spürbar, die das Handeln leiten.
Ich verstehe schon, dass Menschen sich fragen, wofür sie arbeiten, wenn sie am Ende fast den gleichen Betrag herausbekommen, den es als Bürgergeld oder Grundsicherung gibt. Aber da muss man doch konkret an diesen Punkten arbeiten und darf nicht pauschal eine Gruppe schlecht darstellen.
DOMRADIO.DE: Wie genau das ‚C‘ im Parteinamen von CDU und CSU zu verstehen ist, das war und ist immer auch Interpretationssache. Aber passt das ‚C‘ in Ihren Augen noch zu den Unionspositionen gegenüber Migranten und Armen?
Nothelle-Wildfeuer: Ich will nicht in das gleiche Muster verfallen und pauschal sagen, das sei alles nicht christlich. Aber wenn wir fragen, was denn zentrale christliche Impulse sind, würde ich sagen: Erstens sind alle Menschen Geschöpfe Gottes und auch dieser Würde gemäß zu behandeln. Zweitens darf eine Menschengruppe niemals für eine andere geopfert oder zum Sündenbock gemacht werden. Drittens kann das Gemeinwohl einer Gesellschaft nur auf der Basis des Miteinanders und nicht durch Spaltung verwirklicht werden, nicht durch Symbolpolitik und nicht durch zweifelhafte Maßnahmen zum verzweifelten Stimmenfang. Es muss um die Menschen gehen! Wo das gar nicht mehr spürbar ist, passt es meines Erachtens nicht zu dem ‚C‘.
Auch die AfD hat schließlich eine "Unsere christliche Werte"-Hermeneutik. Auch AfD-Politiker begründen ihre Positionen mit – wie ich finde – sehr verkürzten und nicht dem Evangelium entsprechenden Werteinterpretationen. Aber genau das darf es doch für eine wirklich christliche Partei nicht sein. Die Grundüberzeugung, dass es um die Menschen gehen muss, um alle Menschen, würde einer C-Partei gut stehen – genauso wie eine adäquat differenzierte Politik.
Das Interview führte Hilde Regeniter.