DOMRADIO.DE: Thomas Mann ist im protestantischen Lübeck aufgewachsen, Religion spielt ja auch in seinem Roman "Die Buddenbrooks" eine Rolle, aber hier auch als Verfall. Wie fällt seine Diagnose aus?

Prof. Karl-Josef Kuschel (emeritierter Professor der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen und Autor des Buches "Weltgewissen: Religiöser Humanismus in Leben und Werk von Thomas Mann"): Nun, er hat ein Bürgertum erlebt, dass sich das Christliche gewissermaßen angeeignet und für sein eigenes gutes Gewissen gebraucht hat. Er hat in diesem Roman, den er als 26-Jähriger veröffentlichte, durchschaut, dass diese Form von Christentum und Frömmigkeit nicht mehr echt ist, im Grunde einer Schwundstufe anheimgefallen ist.
Die Akteure in der berühmten Weihnachtsszene des Romans agieren nur noch wie Schauspieler auf einer Bühne. Das Ganze wird inszeniert, um die heile Welt aufrechtzuerhalten. Mann schildert den Verfall einer Familie, einer Firma und zugleich den Verfall christlicher Gläubigkeit auf eine nicht mehr ernstzunehmende Schwundstufe. Geistige Quellen hat er sich ganz woanders geholt.

DOMRADIO.DE: Auf der anderen Seite plädiert er für das Christentum: "Jeder Angriff auf das Christentum, jede Leugnung seiner Sittlichkeit bedeutet einen Rückfall in Immoralität und Heidentum, der keinen anderen Namen verdient als den der Barbarei." Das klingt wie ein großes Bekenntnis zum Christentum.
Kuschel: Ja, aber da liegen dann auch 30 Jahre dazwischen. Diese Sätze stammen aus den antifaschistischen Reden und Essays aus den 1930er-Jahren. Da gibt es eine überraschende Fülle von Texten, wo er das christliche Ethos, nicht das christliche Milieu oder die kirchlichen Institutionen, leidenschaftlich zu verteidigen beginnt. Denn er hat spätestens ab 1933 gemerkt, dass in Deutschland eine Macht danach trachtet, das Christentum zu überwinden und durch eine Herrenmoral zu ersetzen, durch eine rassistische Abwertung alles Nichtdeutschen, durch eine Ideologie, die zum Größenwahn führt.

Da begriff er, dass wir wieder tiefere Quellen freilegen müssten und dazu gehört nun einmal das christliche Ethos. Da spricht er vom Christentum als das richtende und Gewissen schärfende Korrektiv gegenüber den Schändern des Sittengesetzes, die er in dem Nazi-Regime voraussetzt. Das ist eine sehr präzise Aussage, und die können wir uns auch heute durchaus mal sagen lassen. Thomas Mann war überzeugt, man muss das relativ lockere Verhältnis zum christlichen Ethos, zu den christlichen Werten überwinden, wenn man eine solche gottlose, antichristliche Gegenmacht vor Augen hat, wie es der deutsche Faschismus war.
DOMRADIO.DE: Welche Konsequenzen hatte dieses Bekenntnis zum christlichen Ethos für Thomas Mann persönlich? Begriffe wie Schuld, Gnade, Vergebung und Hoffnung spielen in seinem Werk eine wichtige Rolle. Besonders mit der Gnade hat er sich ja sehr beschäftigt.
Kuschel: Ja, vor allem im Spätwerk. Ich denke an seinen großen Essay "Meine Zeit" von 1950 oder seine Ansprache an die Hamburger Studentenschaft im Jahr 1953. Da bekennt er in aller Deutlichkeit: "Gnade ist es, was wir alle brauchen."
Schon in seinem Teufelsroman Dr. Faustus heißt es "Gott sei dir gnädig, mein Volk, mein Vaterland". Er wusste, Deutschland hat sich in eine solche tiefe Schuld verstrickt, dass man nur durch die Besinnung auf den göttlichen Ursprung der Vergebung wieder die Zukunft gewinnen kann. Er wusste genau, was es bedeutet zu scheitern, aber er brauchte natürlich auch die Hoffnung, dass diejenigen, die scheitern, auch wieder Vergebung und Gnade erwarten dürfen.
DOMRADIO.DE: Er hat es sich aber mit seinem persönlichen Glauben auch nicht leicht gemacht. Wenn es darum ging, den personalen Gott direkt anzusprechen, hat er sich eher ins Anekdotische geflüchtet...
Kuschel: Ja, dem ist er ausgewichen. Warum redet er von Gnade, aber nicht vom gnädigen Gott, wie es ja dem Evangelium entsprechen würde? Das war für ihn eine Grenze, Gott zu personalisieren oder direkt anzureden. Aus religionskritischer Hemmung heraus oder aus Scheu vor dem großen Wort nahm er davon Abstand. Er hat die großen Urworte des Christlichen wieder stark gemacht – Sünde, Vergebung, Gnade -, aber war nicht bereit, dann wieder das ganze christliche Credo zu übernehmen.
DOMRADIO.DE: Auf seiner Beerdigung hat der Pfarrer im schweizerischen Kirchberg aus dem Psalm 90 zitiert. "Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hochkommt, so sind's achtzig Jahre. Und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Arbeit und Mühe gewesen, denn es fähret schnell dahin." Das klingt ja nun eher protestantisch-asketisch und nicht katholisch-barock, oder?
Kuschel: Ja, ganz und gar. Und es ist vor allen Dingen ein wunderbar passendes Zitat. Der Pfarrer hat damit die ganze Grundhaltung von Thomas Mann in diesem Psalmwort eingefangen. Er war ja 80, als er eher überraschend starb, denn er hatte seinen 80. Geburtstag noch unter großer Anerkennung als Weltschriftsteller und Jahrhundertschriftsteller feiern können.

Bis in die letzten Stunden hinein hat er im Züricher Kantonsspital, in dem er am 12. August 1955 gestorben ist, noch an Projekten gearbeitet. Er hatte von daher einen preußisch protestantischen Arbeitsethos – immer im Wissen, dass man über die Werke nicht gerechtfertigt wird, sondern im Letztvertrauen auf den Unverfügbaren, den er mit der Chiffre "Gnade" zu bezeichnen pflegte.
DOMRADIO.DE: Thomas Mann hat sich intensiv mit Glauben und dem Christentum auseinandergesetzt. Er schildert den Verfall der institutionalisierten Religion. Das klingt sehr aktuell. Auch seine Suchbewegungen erscheinen sehr aktuell, wie auch sein Bekenntnis zum christlichen Ethos. Wie können wir uns in diesen Punkten von Thomas Mann inspirieren lassen?
Kuschel: Wir können uns inspirieren lassen mit dem Grundgedanken: Lasst das spezifisch Christliche, das spezifisch Religiöse nicht außer Acht, vergleichgültigt es nicht. Es bleibt in eurem Gewissen verankert in diesen großen Werten, denn die Gegenkräfte wachsen und die Gegenkräfte sind ernst zu nehmen.

Thomas Mann ist ein Beispiel dafür, dass er bei aller bleibenden Religions- und Kirchenkritik ein Gespür dafür bewahrt hat, dass der Mensch in seinem Gewissen verankert sein muss, in einer Werteordnung, in einem Ethos der Anständigkeit und Moralität. Er nennt da auch die Zehn Gebote. Dazu gibt es eine wunderbare eigene Erzählung von ihm, die Mose-Novelle "Das Gesetz". Die Zehn Gebote sind demnach die "Quintessenz des Menschenanstandes", das ABC des Menschenbenehmens, also das Minimum, worauf Menschen sich verpflichtet fühlen sollten, damit diese Welt nicht zum Teufel geht.
Das Interview führte Johannes Schröer.